Newsletter Mai 2024
Das Zitat berührt mich. Es berührt mich, weil es derzeit wieder besonders schlimm aussieht in der Welt. Es berührt mich, weil ich als Leserin nicht ohne die Texte anderer könnte. Nicht ohne die Worte kluger Köpfe, die recherchieren, forschen, erklären, einordnen. Nicht ohne die Welten zwischen zwei Buchdeckeln, die mich aufnehmen, wenn ich eine Auszeit brauche. Mir je nachdem Vertrautes oder Neues, Lustiges oder Wundersames, Stille und immer wieder auch Schönheit bescheren.
Iris Wolff, die 2022 zuletzt von der Evangelischen Akademie Tutzing und ihrem Freundeskreis mit dem Marie Luise Kaschnitz-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, stellte in ihrer Dankesrede die Frage: „Was nutzt es, Romane zu schreiben oder Bücher zu lesen in Zeiten wie diesen?“ Sie antwortete sich selbst mit einem Zitat des zeitgenössischen ukrainischen Autors Serhij Zhadan: „Natürlich können Bücher den Krieg nicht beenden. Aber Bücher können dir im Krieg helfen, du selbst zu bleiben, dich nicht zu verlieren, nicht unterzugehen.“
Das beleuchtet noch eine weitere Sache: Im Schreiben wie im Lesen treten wir fortwährend in Kontakt mit uns selbst, sind gezwungen, uns in Bezug zu setzen, zu prüfen, sich unserer selbst zu versichern. Nun kenne ich nicht die Schrecken, die Serhij Zhadan erleben musste, nicht die, die Marie Luise Kaschnitz bezeugt haben muss, die zu Ende des Zweiten Weltkriegs 44 Jahre alt war. Wie viel mehr Gewicht muss ein Bezugspunkt wie die Literatur in diesen beiden Leben (gehabt) haben?
50 Jahre nach dem Tod von Marie Luise Kaschnitz vergeben wir den nach ihr benannten Literaturpreis zum 20. Mal. Die Preisträgerin Anja Kampmann beschäftigt sich ebenfalls mit dem Geist ihrer Zeit. Ihre Texte wagen einen kritischen Blick auf die Welt, funktionieren gleichsam als Dokumentation dessen, was dort zu sehen ist. Und dabei, so schrieb die Jury in ihrer Begründung, gebe sie in ihrer Lyrik in „atmosphärisch dichten, klingenden, zum Leuchten gebrachten Bildern der Welt etwas zurück, was ihr endgültig abzugehen drohe: Schönheit.“
Wir werden den Marie Luise Kaschnitz-Preis am 2. Juni feierlich verleihen und uns zuvor in einer Tagung dem Werk Anja Kampmanns eingehend widmen – genau so, wie wir uns auch in vielen weiteren Veranstaltungen im Mai mit der Welt und ihrem Zeitgeschehen in gewohnter kritischer und reflektiver Weise auseinandersetzen. Dabei beschert „unser“ Schloss am See neben der intellektuellen Anregung auch immer ein bisschen Auszeit für die Seele.
Ihre Alix Michell
Studienleiterin für Kunst, Kultur, Digitales und Gender