Protestantisch denken - ein Bekenntnis zur "Toleranz und Weltoffenheit"
Wilder Wein und Efeu ranken sich an den gelben Fassaden von Schloss Tutzing empor. Wappenbilder, alte schmiedeeiserne Fenster, verwitterte Taufbecken, spätrömische Sarkophage und Brunnen erinnern an frühere Schlossbesitzer. In seiner heutigen Gestalt gehen die Gebäude auf Friedrich Graf von Vieregg zurück, der zwischen 1802 und 1816 den Umbau der Barockanlage veranlasste. Zwischen 1869 und 1880 befand sich Schloss Tutzing im Besitz des Gründers der Deutschen Verlagsanstalt, Eduard von Hallberger. Von 1921 bis zu seinem Tod im Jahre 1930 residierte der international bekannte ungarische jüdische Kunstsammler Marczell von Nemes im Schloss. Während des Dritten Reiches besaß der Industrielle und katholische Zentrumspolitiker Albert Hackelsberger das Objekt. Er kam 1940 in der Gestapo-Haft um. In den vierziger Jahren gehörte das Schloss den Familien Kaselowsky und Oetker, die es nach dem Zweiten Weltkrieg an die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern verkauften, nachdem Landesbischof D. Hans Meiser entscheiden hatte, 1947 an diesem Ort die Evangelische Akademie Tutzing zu errichten.
Am 1. April 1947 wurde Dr. August Knorr, der in bedrängter Zeit zur „Bekennenden Kirche“ gehört hatte, im Sommer 1948 Pfarrer Gerhard Hildmann zum Leiter des Hauses bestellt. Schon im Frühjahr desselben Jahres stellte sich heraus, dass Rudolf August Oetker das ganze Anwesen verkaufen wollte. Unter den Interessenten war auch ein Vertreter der Prießnitz-Anstalten aus dem schlesischen Gräfenberg. Hätte er das Haus bekommen, so wäre einerseits die Heimkehrerarbeit, andererseits auch der junge Akademiebetrieb zum Erliegen gekommen. Es wurde an alternative Standorte gedacht, schließlich aber hielt Landesbischof Hans Meiser doch an Schloss Tutzing fest. Es wurde im Frühjahr 1949 von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern für 350.000 Mark mit zwei Dritteln des Grundbesitzes gekauft, das verbleibende Drittel mit der Viola-Burg ging an Anton Leidl. Ein Teil der Summe kam vom Lutherischen Weltbund, d.h. genau genommen von den amerikanischen lutherischen Kirchen, die das Geld für den „geistlichen Wiederaufbau“ Deutschlands zur Verfügung gestellt hatten.
Als Leiter der Akademie seit ihrem Bestehen sind zu nennen: nach Dr. med. August Knorr (1947-1948) Kirchenrat Gerhard Hildmann (1948-1968), Kirchenrat Paul Rieger (1968-1972), Pfarrer Johannes Viebig (1972-1977), kommissarisch Pfarrer Erhard Ratz (1977-1979), Pfarrer Claus-Jürgen Roepke (1980-1991), Pfarrer Dr. Friedemann Greiner (1991-2011) und seit 2011 Pfarrer Udo Hahn.
Die Evangelische Akademie Tutzing führt – so ihr Selbstverständnis – Menschen aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Medien und Kirche zusammen. Sie versteht sich als ein Ort der Bildung und der Begegnung mit dem christlichen Glauben. Sie will Meinungsbildung möglich machen. Die Akademie fördert durch den Diskurs die Suche nach Lösungen in der Zivilgesellschaft, sie richtet ihre Arbeit interdisziplinär, interkulturell und international aus. Und sie wirkt an der Gestaltung einer verantwortlichen, gerechten und partizipativen Gesellschaft mit. Mehr als 8.000 Menschen nehmen jährlich an den gut einhundert Tagungen, Konsultationen, Workshops und abendlichen Foren teil. In der Evangelischen Akademie Tutzing finden auch zahlreiche Gastveranstaltungen statt. Stiftungen, Universitäten, Firmen und sonstige Organisationen nutzen den Ort für eigenständig organisierte Tagungen, Klausuren, Kongresse. Dadurch kommen jährlich weitere 6.000 Menschen ins Schloss.
Die Evangelische Akademie Tutzing zählt zu den bedeutendsten Denkwerkstätten in Deutschland. Zahlreiche Impulse sind von hier ausgegangen und haben in Politik, Wirtschaft, Kultur, Medien und Kirche ihre Wirkung entfaltet. In Seminaren, Konsultationen, Workshops und Abendveranstaltungen werden Themen aufgegriffen, die die Menschen bewegen. Im Jahre 1963 hat Egon Bahr in einer Tagung des Politischen Clubs der Akademie das Motto der Ostpolitik Willy Brandts geprägt: „Wandel durch Annäherung.“
Seit ihrem Bestehen bringt sie Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verschiedener politischer Couleur wie auch Künstler und Literaten ins Gespräch. Ihre Bandbreite zeigt sich auch in den von ihr gestifteten Preisen: seit 1984 wird alle zwei Jahre der Marie-Luise-Kaschnitz-Preis vergeben, seit 2000 ebenfalls alle zwei Jahre der „Toleranzpreis“, seit 2012 auch in der Kategorie „Zivilcourage“. Seit 2013 unterstützt sie den Robert-Geisendörfer-Preis „Kinderprogramme“ und seit 2014 lobt die Evangelische Akademie Tutzing zusammen mit dem Unternehmen Eurobuch den „Phoenix-Kunstpreis für Nachwuchskünstler“ aus.
Eine weitere Besonderheit: Seit 2011 besteht ein Partnerschaftsvertrag zwischen der Evangelischen Akademie Tutzing und dem Institute for Theological & Interdisciplinary Research der Ecumenical Foundation of Southern Africa (EFSA) in Stellenbosch/Südafrika.
Bundeskanzler Konrad Adenauer in Begleitung von Ministerpräsident Alfons Goppel (links) und Landesbischof Hermann Dietzfelbinger im Juli 1963.
1958 – Sommertagung des Politischen Clubs: Pfeife rauchend unterhielt sich der SPD-Bundestagsabgeordnete Herbert Wehner mit den Tagungsgästen.
Ein Vier-Augen-Gespräch im Schlosspark der Akademie: Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß und der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, bei der Sommertagung des Politischen Clubs 1961.
Das erste Nachkriegsjahrzehnt: Prominente Literaten und Dichter prägten ebenfalls das Tagungsprogramm, unter ihnen Marie Luise Kaschnitz. Ihr zu Ehren stiftete die Akademie den Marie Luise Kaschnitz-Literaturpreis, der seit 1984 in zweijährigem Turnus verliehen wird.
1982: Bundeskanzler Helmut Schmidt dozierte über “Glaube und Politik”.