Newsletter Dezember 2021
Ich erinnere mich an eine Sendung im Deutschlandfunk zum Thema Zeitempfinden im besonderen Kontext der Pandemie, die ich im Oktober 2020 gehört habe. Der Philosoph und Physiker Norman Sieroka erklärte darin, Zeitempfinden habe viel mit dem zu tun, was man mache und wie viel in einer gegebenen Zeit passiere. „Zeit vergeht dann schnell, wenn innerhalb eines Intervalls viele Ereignisse sind. […] Sie machen etwas, bei dem viele Eindrücke auf Sie einwirken, dann vergeht die Zeit wie im Fluge. Wohingegen, wenn […] sehr wenig passiert, pro physikalische Zeit, dann ist es halt langweilig“, dann vergeht die Zeit langsam. So weit, so unspektakulär. Interessanter wird im Kontext der durch die Coronapandemie geprägten Jahre aber das Paradoxon des Zeitempfindens im Rückblick und nicht im Moment des eigentlichen Erlebens: Die im Erleben so rasch verflogene, ereignisreiche Zeit fühlt sich retrospektiv länger an, als sie eigentlich war – weil sie so gefüllt mit Erlebnissen und Anekdoten erscheint. Wohingegen die ereignisarme Zeit, die sich im Erleben zog, im Rückblick gestrafft erscheint – ist ja nichts passiert, die Zeit kann sich im retrospektiven Fluss sozusagen nicht an Erzählenswertem verankern und ist schnell erzählt.
All diese Zeiten fasst die Schriftstellerin Iris Wolff in ihrem Roman „Die Unschärfe der Welt“ zusammen. „Es gab eine Zeit, die vorwärts eilte, und eine Zeit, die rückwärts lief. Eine Zeit, die im Kreis ging, und eine, die sich nicht bewegte, nie mehr war, als ein eigener Augenblick.“
Iris Wolff wurde im vergangenen Winter der Marie Luise Kaschnitz-Preis unseres Hauses zugesprochen. Die offizielle Verleihung und die dazu gehörende Tagung um ihr Werk hätten nun stattfinden sollen. Es wären ganz bestimmt so gefüllte und reiche Tage geworden, die sich dann rückblickend auf eine kleine Ewigkeit hätten ausdehnen können.
Jedoch steigen die Inzidenzwerte und Politik wie Medizin empfehlen, die Kontakte zu reduzieren. So werden angesichts der angespannten Pandemiesituation nun leider erneut keine Präsenzveranstaltungen im Haus stattfinden. Das, was sich übersetzen lässt, wird in den virtuellen Raum verlegt. Die Verleihung des Kaschnitz-Preises aber wird noch einmal verschoben werden.
„Es gab eine Sehnsucht nach etwas, das verloren war, Sehnsucht nach etwas, das sich nicht erfüllt hatte, Sehnsucht danach, etwas zu finden, und manchmal auch danach, etwas zu verlieren“, schreibt Iris Wolff. Darin finde auch ich mich wieder: Ich habe Sehnsucht nach unbeschwertem Beisammensein und danach, Sie hoffentlich im neuen Jahr zur Verleihung des Kaschnitz-Preises und vielen weiteren Gelegenheiten im Schloss wiederzusehen. Und gar nicht so selten habe ich auch Sehnsucht danach, diese Pandemie zu verlieren, irgendwo zwischen den Jahren vielleicht, zwischen der Türe, vor der Weihnachten steht und der Ecke, um die das neue Jahr linst? Da wäre doch noch Platz.
Ich wünsche Ihnen trotz – oder gerade wegen allem – eine besinnliche und frohe Weihnachtszeit,
Ihre
Alix Michell
Studienleiterin für Kunst, Kultur,
Digitales und Bildung