FAMILIENPOLITIK ALS VERFASSUNGSAUFTRAG
Krisen, so sagt man, machen Verhältnisse und Probleme sichtbar, die vorher schon da waren, aber zu wenig beachtet wurden. Gilt das auch für die Familie? Wie wichtig, ja unersetzlich sie ist, hat Corona überdeutlich gemacht: Familie als Raum der Geborgenheit, als Ort des Überstehens der Pandemie! Das ist eine Erfahrung aus den letzten zwölf Monaten, die wir nicht vergessen sollten.
Das Grundgesetz stellt die Familie unter besonderen Schutz. Und auch in der Zivilgesellschaft – ebenso bei jungen Menschen – genießt die Familie hohe und höchste Wertschätzung, wie Umfragen immer wieder belegen. Aber was bedeutet Familie heute in der Wirklichkeit? Innerhalb weniger Jahrzehnte haben sich die Familienverhältnisse in Deutschland und auch der Begriff Familie tiefgreifend verändert. Neben die klassische Ehe und Kleinfamilie ist eine Vielfalt an Lebensmodellen getreten: Mehr als ein Drittel der Kinder in Deutschland werden außerhalb der Ehe geboren, fast jede fünfte Familie ist alleinerziehend und geschätzt jede zehnte – eine Patchworkfamilie. Nichteheliche Lebensgemeinschaften ebenso wie eingetragene Lebenspartnerschaften und gleichgeschlechtliche Ehen erfahren, selbst im kirchlichen Kontext, zunehmend Gleichstellung. Immer mehr Frauen in Deutschland entscheiden sich gegen Kinder. Ihr Anteil gehört zu den höchsten in Europa. Ökonomen versuchen dieses Phänomen mit steigenden „Opportunitätskosten“, dem Ergebnis einer persönlichen Kosten-Nutzen-Analyse zu erklären. Offensichtlich ist, dass heute für viele Menschen die Institutionen und Infrastrukturen nicht mehr zu den veränderten Lebens- und Familienverhältnissen passen. Die Familienverhältnisse sind, wie die Gesellschaft insgesamt, in ethnischer, kultureller und religiös-weltanschaulicher Sicht pluralistischer geworden.
Was folgert daraus für die Familienpolitik und wie kann sie – in Zeiten heftiger kultureller, sozialer, kommunikativer Veränderungen und mit den Erfahrungen der Pandemie – ihrem Verfassungsauftrag nachkommen? Einzelne Ziele der Familienpolitik sind in der gesellschaftlichen und politischen Debatte wie auch in der Wissenschaft durchaus umstritten. Familienpolitik ist zugleich Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Sozial-, Finanz- und Wirtschaftspolitik. Umso wichtiger ist die Verständigung über gemeinsame, tragfähige Perspektiven.
Darum soll es in der Frühjahrstagung des Politischen Clubs gehen: Um Begriff, Verständnis und Praxis von Familie heute und nach den Pandemieerfahrungen; um die Frage, was moderne Familienpolitik leisten kann und muss – angesichts der vielfältigen Realität von Familie, angesichts von sozialen und kulturellen Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten, angesichts eines veränderten Selbstverständnisses und Anspruchs auf berufliche Selbstverwirklichung und der bleibenden gesellschaftlichen Aufgabe, Kindern Geborgenheit und Zuwendung zu ermöglichen. Es geht um nicht weniger als die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Diskutieren Sie mit!
Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing
Dr. Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident a.D., Leiter des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing