Wohnen als soziale Infrastruktur
Ein Pfadwechsel in der Wohnungspolitik ist überfällig, findet Stephan Reiß-Schmidt, Stadtdirektor a.D. und Experte für Stadt- und Regionalentwicklung. Damit die Versorgung an Wohnraum sozial- und klimagerecht wird, braucht sie Rahmenbedingungen, die unabhängig von Konjunkturzyklen sind. Der Diplom-Ingenieur formuliert in diesem Text sechs Punkte zur Orientierung.
Von Stephan Reiß-Schmidt
“Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch auf eine angemessene Wohnung” – so heißt es in Artikel 106 der Bayerischen Verfassung. Vor allem in begehrten Groß- und Universitätsstädten erscheint dieses Versprechen als unerreichbare Utopie. Seit 2014 wurden zwar knapp drei Millionen Wohnungen gebaut, aber davon zu viele als Eigenheime in ländlichen Regionen und damit am Bedarf vorbei. Auch mit beachtlichen Neubauzahlen konnte der Markt offenbar kein ausreichendes Angebot an bezahlbaren Mietwohnungen bereitstellen. Statt “weiter so” ist ein Pfadwechsel zu einer sozial- und klimagerechten Wohnraumversorgung überfällig.
Wohnungskrise als Dauerzustand?
Der Blick auf den Wohnungsmarkt in Deutschland zeigt ein widersprüchliches Nebeneinander von Not und Überfluss: Leerstand in strukturschwachen Regionen und zugleich ein alarmierender Mangel an bezahlbaren Mietwohnungen in prosperierenden Groß- und Universitätsstädten. Mehr als ein Viertel der großstädtischen Miethaushalte musste schon 2018 über 40 Prozent des Nettoeinkommens für die Bruttowarmmiete aufwenden. Während sich armutsgefährdete Haushalte oder Alleinerziehende in überbelegten Wohnungen drängen, sind immer mehr ältere Ein- und Zweipersonenhaushalte in ihren Eigenheimen mit viel zu viel Wohnfläche “gefangen”, weil es an kleineren und bezahlbaren Alternativen im vertrauten Umfeld fehlt.
Zwar stieg die Zahl der Wohnungen in den letzten zehn Jahren mehr als doppelt so stark wie die Zahl der Haushalte. Während aber in wachsenden Großstädten meist weniger als die Hälfte des Wohnungsbedarfs realisiert wurde, zersiedeln und versiegeln weitere Einfamilienhausgebiete viele ländliche Regionen. “Wohnungsnot heute ist kein Knappheits-, sondern ein Verteilungsproblem und als solches ein kontinuierliches Phänomen marktförmig organisierter Wohnungsversorgung”, beschreiben die Stadtsoziologen Martin Kronauer und Walter Siebel die Lage.
Der Zusammenhalt in der Gesellschaft ist gefährdet
“Wir haben den sozialen Wohnungsbau plattgemacht.” So wurde kürzlich Bundesbauministerin Klara Geywitz in einem Interview in der Wochenzeitung DIE ZEIT zitiert. “Früher hatten wir drei Millionen Sozialwohnungen, heute sind es nur noch eine Million. Nur zum Vergleich: Frankreich hat mehr als fünf Millionen,” heißt es dort weiter. Seit 1990 die Wohnungsgemeinnützigkeit abgeschafft wurde, schmilzt die Zahl der belegungs- und mietgebundenen Wohnungen wie Schnee in der Sonne. Die (anders als in Frankreich) nur für 20 oder 30 Jahre geltende Sozialbindung erweist sich als verhängnisvolle Fehlkonstruktion. Der Neubau von Sozialwohnungen bleibt hinter dem Auslaufen der Bindungen immer weiter zurück, während der Bedarf an bezahlbaren Mietwohnungen bei wachsender Bevölkerung und explodierenden Mieten zunimmt. Das erzeugt nicht nur eine gravierende soziale Schieflage und gefährdet damit den Zusammenhalt in der Gesellschaft, sondern es kommt uns auch teuer zu stehen. Der Löwenanteil der für das Wohnen ausgegebenen öffentlichen Mittel von mehr als 20 Milliarden Euro pro Jahr fließt in Kosten der Unterkunft und Wohngeld, weniger als zehn Prozent werden für die Wohnungsbauförderung ausgegeben – viel zu wenig, um einen dauerhaft gesicherten Bestand an sozial gebundenen Wohnungen aufzubauen.
Doppelter Pfadwechsel
Daseinsvorsorge im Sozialstaat umfasst eine sozialgerechte Wohnraumversorgung für die breite Mehrheit, die zugleich klimagerecht und suffizient ist – also die ökologischen Leitplanken respektiert. Bau- und Wohnungswirtschaft, Kommunen und Mieterinnen und Mieter brauchen für einen solchen doppelten Pfadwechsel langfristig verlässliche und von Konjunkturzyklen möglichst unabhängige Rahmenbedingungen. Sechs Orientierungspunkte markieren den Transformationspfad:
- Recht auf Wohnen! Bestehende bezahlbare Mietwohnungen schützen und einen dauerhaft gesicherten Bestand sozial gebundener Mietwohnungen aufbauen.
Dazu braucht es eine neue Wohngemeinnützigkeit, die mit Steuerprivilegien, Investitionszulagen und Gewinnbegrenzung dauerhafte Belegungs- und Mietbindungen ermöglicht. Vorbild ist Wien, wo fast 60 Prozent der Mietwohnungen städtisch (Gemeindebau) bzw. gefördert und unbefristet gemeinnützig sind. - Wie wenig ist genug? Wohnraum- und Siedlungsflächenbedarf kritisch hinterfragen, Flächenkreislaufwirtschaft konsequent durchsetzen.
Die tägliche Flächenneuinanspruchnahme für Siedlungs- und Verkehrsflächen von heute 52 Hektar soll bis 2030 auf unter 30 Hektar und bis 2050 auf “Netto-Null” zurückgeführt werden. Das setzt eine effizientere und sparsamere Nutzung von Wohnraum voraus, z.B. durch mehr gemeinschaftliche statt individueller Wohnfläche. - (Un-)Sichtbare Potenziale? Leerstand und Unternutzung umfassend ermitteln und aktivieren.
Im “unsichtbaren Wohnraum” (so nennt es der Wohnwendeökonom Daniel Fuhrhop) vieler Einfamilienhäuser nach der Familienphase liegt eine der größten Ressourcen für mehr Wohnsuffizienz. Die Schaffung von zusätzlichen Wohneinheiten, attraktive und ortsnahe Angebote zum Umzug in eine kleinere Wohnung oder Förderprogramme wie “Jung kauft Alt” können daraus eine Win-win-Situation für alle Beteiligten machen. - Abrissmoratorium! Bestandsgebäude nicht ohne kritische Prüfung ihrer Nutzungs- und Umbaupotenziale und ohne Bilanzierung der “grauen Energie” preisgeben.
Rund 40 Prozent der Treibhausgasemissionen in Deutschland resultieren aus Errichtung, Nutzung und Abriss von Gebäuden. Nicht nur durch bessere Wärmedämmung und CO2-freie Beheizung, sondern vor allem durch mehr Umbau und die Wiedernutzung von Bauteilen und Baustoffen (Kreislaufwirtschaft) kann die Klimakrise gebremst werden. - Re-Regulieren! Ressourcen und Hemmnisse gezielt und mit integrierten Strategien adressieren.
Eindimensional technisch optimierte Normen und überzogene Komfortstandards sollten kritisch geprüft und abgebaut werden. “Einfach Bauen” (– nach dem Prinzip des gleichnamigen Verbunds, der sich 2012 an der Technischen Universität München unter der Leitung von Prof. Florian Nagler manifestierte) mit guter ästhetischer und sozialer Wohnqualität bei sparsamem Technikeinsatz sollte zur neuen Normalität werden. - Zielhierarchie beachten!
Der Schlüssel für eine sozial- und klimagerechte Wohnungsversorgung liegt im Bestand. Eine Neuinanspruchnahme von Flächen und Neubau sind nur nach Ausschöpfen der Potenziale im Bestand vertretbar. Die Reihenfolge lautet dementsprechend: Wohnungsbestand sichern und ertüchtigen, vorhandenen Wohnraum gerechter verteilen, Leerstand aktivieren, Bestand um- und ausbauen, im bestehenden Siedlungsbereich flächensparsam und kreislauffähig neu bauen.
Voraussetzung für diesen Pfadwechsel ist eine integrierte, strategische Stadtentwicklungs- und Bodenpolitik. Wohnraum als soziale Infrastruktur kann nur entstehen, wenn die unvermehrbare und unverzichtbare Ressource Boden nicht als Finanzanlage oder Spekulationsobjekt missbraucht, sondern gemeinwohlorientiert genutzt wird. Dafür gibt es bewährte Modelle und Akteure, die in den Mainstream geholt werden sollten: kommunale Bodenfonds, Erbbaurecht, gemeinnützige Bodenstiftungen, Genossenschaften und andere Formen kollektiven Eigentums.
Über den Autor:
Stephan Reiß-Schmidt ist Diplom-Ingenieur, Stadtdirektor a.D., freier Berater und Autor für Stadt- und Regionalentwicklung. Er ist unter anderem Ko-Vorsitzender des Ausschusses Bodenpolitik der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung und Mitinitiator der Münchner Initiative für ein soziales Bodenrecht sowie des bundesweiten Bündnis Bodenwende. Bis 2017 leitete er die Stadtentwicklungsplanung bei der Landeshauptstadt München.
Hinweis:
Mit dem Thema Wohnen beschäftigt sich die Tagung “Wohnst Du schon oder suchst Du noch?” vom 22. – 24. November an der Evangelischen Akademie Tutzing. Neben vielen weiteren Expertinnen und Experten wird auch Stephan Reiß-Schmidt bei der Tagung sprechen. Der Titel seines Vortrags lautet: “Boden ist der Schlüssel – keine Wohnwende ohne Bodenwende!”
Alle Infos zum Programm der Tagung und den Anmeldemodalitäten finden Sie hier.
Bild: Stephan Reiß-Schmidt (Foto: Bundesstiftung Baukultur)