“Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch”. Akademiedirektor Udo Hahn spricht Gastkommentar “Zum Sonntag” auf Bayern 2
Zum Sonntag / 30. Dezember 2017
„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“
Udo Hahn
Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing
Jetzt ist die Zeit der Jahresrückblicke – und der Vorausschau auf das, was 2018 so alles kommen könnte. Auch 2017 dürfte bei vielen als „atemloses Jahr“ in Erinnerung bleiben. Zwölf Monate, in denen so viel geschah, um mühelos die doppelte Zahl zu füllen. Das gilt nicht nur für den im Januar ins Amt gekommenen US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Via Twitter hält er seither buchstäblich im Stundentakt die Welt in Atem. Und all die anderen vermeintlich starken Männer – in Russland und Nordkorea, in der Türkei und in Syrien – sie tun es ihm gleich. „Die Welt aus den Fugen“ – so lautete der Titel eines der letzten Bücher des 2014 verstorbenen Journalisten Peter Scholl-Latour. Worte, die inzwischen als Charakterisierung praktisch jeder Entwicklung immer richtig zu sein scheinen und deshalb in keinem Jahresrückblick fehlen. Sie stammen aber eigentlich von William Shakespeare. Dieser hat seinen Hamlet vor gut vierhundert Jahren davon sprechen lassen, dass die Zeit aus den Fugen sei.
Ob nun die Zeit oder die Welt aus den Fugen geraten ist, macht keinen Unterschied. Dessen ungeachtet treiben Träume von einer besseren Zukunft immer phantastischere Blüten. Zugleich treffen diese auf hellsichtige Skeptiker. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari ist so einer. Aus meiner Sicht hat er das bemerkenswerteste Sachbuch des Jahres verfasst: „Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen“. In ihr beschreibt er das Entstehen einer neuen Klasse: Er nennt sie die „Klasse der Nutzlosen“. Eine düstere Vision. Der Fortschritt teilt die Menschen endgültig in Gewinner und Verlierer. Den einen steht alles zur Verfügung – auf Kosten der anderen.
Der Homo Deus – der Gott-Mensch – ist sozusagen die Weiterentwicklung des Homo Faber, des Macher-Menschen. Am Turmbau zu Babel ist er noch gescheitert. Aber jetzt hat er sich soweit optimiert, dass er Gott endlich ersetzen und seine Position einnehmen kann. Dass die Welt dadurch besser wird, ist jedoch nicht anzunehmen.
Wohin geht also die Entwicklung? Diese Frage stellen sich viele Menschen auch im Blick auf unser Land. Der Glaube an die Stabilität der Strukturen, die bisher als absolut verlässlich galten, hat Risse bekommen. Ganz grundsätzlich gefragt: Ist ein so komplexes System wie unser Staat des Grundgesetzes zukunftstauglich? Auf den ersten Blick wirkt er robust. Bei genauerem Hinsehen wird man sagen können, er ist stabil und fragil zugleich. Bisherige Krisen konnten stets gemeistert werden. Die Verknüpfung aller Elemente, die die Funktionsfähigkeit garantiert, klappte. Unsere Demokratie verfügt über eine entsprechende Selbststeuerfähigkeit. Und sie ist anpassungsfähig an Veränderungen. Bisher war das jedenfalls so.
Komplexität ist übrigens nicht per se die Ursache für Probleme. Krisen entstehen immer durch Vereinfachung. Beziehungsweise dadurch, dass die Komplexität nicht verstanden oder gar geleugnet wird. Wer sich mit Systemtheorien beschäftigt, wird schnell erkennen, dass es eine gewisse Robustheit braucht, um Störungen zu überstehen. Über Robustheit hinaus ist mehr noch Resilienz nötig – eine Widerstandsfähigkeit, die entsteht, wenn man aus Krisen lernt.
Es gibt übrigens noch eine Steigerung von Resilienz. Der Begriff heißt Emergenz und kommt aus dem Lateinischen, wörtlich übersetzt: auftauchen, emporsteigen, herauskommen. Emergente Systeme sind nicht nur zur inneren Wandlung fähig, sondern zugleich auch innovativ. Wenn man so will: die Selbstorganisation in ihrer besten Form. Davon scheinen wir in Deutschland aktuell entfernt zu sein. Es gibt viel „Selbst“ – im Sinne von Selbstbespiegelung und Nabelschau. Und wenig „Organisation“ – im Sinne von Weiterentwicklung, die angesichts der Herausforderungen notwendig wäre. Noch ist alles stabil – man könnte darin ein Indiz für die Robustheit unserer Strukturen sehen. Doch nur durch Zuschauen wird es aber nicht so bleiben.
Wem diese Überlegungen zu theoretisch klingen, der sei an Friedrich Hölderlin erinnert: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Oder noch einmal anders: Politik und Zivilgesellschaft müssen ihre Aufgabe erfüllen. Und Gottvertrauen schadet dabei keineswegs.
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