“Wir sind noch immer nicht im Notfallmodus”
Zu wenig Agieren angesichts der Corona-Pandemie, zu wenig Koordination, zu wenig Bewusstsein für die Notlage – “too little, too late”. So fasst Dietrich Krauß, einer der Autoren der ZDF-Sendung “Die Anstalt”, das Krisenmanagement in Deutschland zusammen. Im Gespräch mit Akademiedirektor Udo Hahn und der Münchner Sozialexpertin Andrea Betz ging es um die soziale Dimension der Pandemie.
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Corona: Viele können es nicht mehr hören, doch die Situation ist nach wie vor angespannt. “Das Nervenkostüm der Menschen ist angekratzt, der Energiespiegel unten”, beschreibt Andrea Betz die aktuelle Stimmungslage. Die 41-Jährige ist nah dran an den Lebenswelten der Bedürftigen. Sie ist Sprecherin der Wohlfahrtsverbände im Landkreis München, Abteilungsleiterin für Flucht und Migration bei der Diakonie München und Oberbayern sowie Vorständin im Verein Sozialpolitisches Forum.
Die Menschen, die schon vor der Corona-Krise zu den Schwächsten in der Gesellschaft gehört haben, seien diejenigen, die durch die Krise nun am meisten verlören, sagte Andrea Betz in der Online-Debatte am 5. Februar mit einem der Autoren der Sendung “Die Anstalt” Dr. Dietrich Krauß und dem Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing, Udo Hahn. Thema des Gesprächs war die aktuelle Ausgabe der Politsatire “Die Anstalt”. Darin ging es um das Krisenmanagement von Bund und Ländern, die Impfstoffherstellung und -verteilung sowie um die sozialen Auswirkungen von Corona.
Im Nachteil: Geringverdienende
In gewohnter Weise widmete sich das “Anstalt”-Team um Autor Dietrich Krauß und die Kabarettisten und Autoren Claus von Wagner und Max Uthoff Aspekten, die bislang noch wenig mediale Beachtung erfahren haben sowie Schieflagen und Missständen, die bei aller satirischen Unterhaltung das Bewusstsein für die Notlage der weniger Privilegierten schärfen. Was das Kabarett-Ensemble in ausgefeilten Dialogen und auf Wandtafeln skizzierte, begegnet der Sprecherin der Münchner Wohlfahrtsverbände jeden Tag in ihrer Arbeitsrealität. “Corona ballt sich auf der Seite der Geringverdiener”, berichtet Andrea Betz. Wer seine Arbeit nicht vom Home-Office erledigen kann, wer statt im eigenen Auto im öffentlichen Nahverkehr zur Arbeit fährt, wer wenig Wohnraum für sich und seine Familie zur Verfügung hat oder nicht über ausreichend digitale Endgeräte – etwa für Homeschooling – zurückgreifen kann, ist im Nachteil. Die Erfahrung aus einem Jahr Pandemie zeige: Geringverdiener haben nicht nur ein höheres Risiko an Corona zu erkranken, sie riskieren auch schwerere Krankheitsverläufe, so Betz.
Was die Spendenmoral in der Bevölkerung angehe, nehme Betz eine große Solidarität mit sozial Bedürftigen während der Coronakrise wahr. Gleichzeitig stellt sie aber auch eine geringere Spendenbereitschaft für Geflüchtete fest – eine Entwicklung, die ihr große Sorgen bereitet. Besonders denjenigen Geflüchteten, die in Heimen auf sieben Quadratmetern pro Person lebten und sich Bad und Küche mit den Bewohnerinnen und Bewohnern eines ganzen Stockwerkes teilen müssten, werde “dieser Lockdown zur Qual”.
Forderung nach mehr Investitionen in soziale Einrichtungen
Das genaue Ausmaß der sozialen Nöte, werde erst nach und nach sichtbar werden. Angesichts der Kosten, die der Staat momentan aufbringt, um die wirtschaftlichen Einbußen aufzufangen und wegfallende Einkommen zu kompensieren, warnt Betz nicht nur vor möglichen Einsparungen im Sozialbereich, sie fordert eine Ausweitung der sozialen Unterstützungsstruktur. Außerdem erinnerte Betz daran, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergehe. Auch in der “Anstalt”-Folge klingt der Umstand an, dass die Vermögenden in Deutschland während der Pandemie ihre Vermögen noch steigern konnten –dem Aktienmarkt konnte Corona nichts anhaben.
Sendungsautor Dietrich Krauß zeigte seine Verwunderung über fehlende gesellschaftliche Debatten zur Entschädigung Benachteiligter. Er sagte: “Die einen spüren gar nichts, die anderen kriegen alles ab!” Krauß äußerte sein Unverständnis darüber, dass angesichts der wachsenden sozialen Schieflagen weder eine ernsthafte politische Debatte über einen Solidarbeitrag stattfände noch eine Vermögensabgabe diskutiert werde.
15 Bundeswehrsoldaten – für alle Münchner Pflegeheime
Die aktuelle “Anstalt”-Folge illustriert das Versagen des Corona-Krisenmanagements anhand des Zustands in den Alten- und Pflegeheimen des Landes, den immens hohen Sterbezahlen und den Versuchen, der Lage Herr zu werden – etwa durch den Einsatz von Bundeswehrsoldaten. Gefragt nach der konkreten Umsetzung dieses Vorhabens, berichtet Andrea Betz von den Alten- und Pflegeheimen in München, die sich mit der Koordination und dem Anlernen der Soldaten der Bundeswehr vor Ort alleine gelassen fühlten. Hinzu käme die Tatsache, dass für alle Münchner Heime aktuell insgesamt 15 Soldaten zur Verfügung stehen – die jeweils zwei Wochen in einem Heim eingesetzt werden können. Angesichts dieser Faktoren, so Betz, würden die meisten Heime auf diese Unterstützung verzichten.
Dietrich Krauß ist der Ansicht, dass man in Deutschland den Ernst der Lage noch nicht ganz verstanden habe. “Wir haben nicht das Gefühl, in einem Katastrophenfall zu leben”, so Krauß. Er beklagt fehlende Koordination und fehlendes Durchsetzungsvermögen der Politik. In einem Fall wie diesem müsse schnell gehandelt statt lange diskutiert werden. Hinsichtlich der Impfstoffherstellung fragt sich Krauß, warum der Staat nicht selbst in die Verantwortung gehe und etwa bundeseigene Produktionsstätten baue. Vor dem Hintergrund der weltweiten Pandemie befürwortete er eine Zwangsvergabe für die Handelslizenzen der Covid-19-Impfstoffe sowie den Plan der Weltgesundheitsorganisation WHO, das Wissen zur Bekämpfung der Pandemie in einer zentralen Patentpool-Datenbank weltweit allen Menschen zur Verfügung zu stellen. In der momentanen Situation hätten sich 13 Prozent der Weltbevölkerung 50 Prozent des weltweit zur Verfügung stehenden Impfstoffes für die kommenden Monate gesichert.
Was den langwierigen Impfprozess in Bayern betreffe, berichtete Andrea Betz von einer Hilflosigkeit, die momentan in Wut umschlage. Besonders die sozialen Einrichtungen benötigten mehr Impfstoffe, um wieder voll handlungsfähig zu sein. Sie fordert eine Einstufung in eine schnellere Vergabe des Impfstoffes an alle Menschen, die in systemrelevanten Einrichtungen arbeiteten – aber auch für die, die unter prekären Bedingungen lebten, etwa in Heimen für Geflüchtete und Wohnungslose.
Am Ende der anderthalbstündigen Online-Diskussion erinnert Dietrich Krauß an die Kerzen-Aktion “Corona-Tote sichtbar machen”, die der Berliner Journalist Christian Y. Schmidt zusammen mit der Künstlerin Veronika Radulovic im Dezember ins Leben gerufen hat. Jeden Sonntag erinnern Kerzen in ganz Deutschland an die mehr als 40.000 Corona-Toten in diesem Land.
Dorothea Grass
Hinweis:
→ Den Videomitschnitt zur Debatte finden Sie auf unserem YouTube-Kanal #EATutzing unter diesem Link
Zum Veranstaltungsformat:
Im Herbst 2019 haben wir begonnen, politische Satire der ZDF-Sendung “Die Anstalt” auch im Schloss Tutzing zu präsentieren. Die Resonanz hat gezeigt: Es gibt Bedarf, sich über die angeschnittenen Themen auszutauschen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Wir zeigen die jeweils aktuelle Folge – oder auch einmal eine ältere Sendung, um zu prüfen, ob die beschriebenen Missstände noch immer bestehen. Immer mit dabei ist der Macher der Sendung, Dr. Dietrich Krauß – sowie ein weiterer Gast, den wir passend zum Thema einladen.
Redaktioneller Hinweis:
In einer früheren Version dieses Textes waren Max Uthoff und Claus von Wagner nicht als Autoren der Sendung erwähnt. Das stimmt nicht. Dietrich Krauß, Claus von Wagner und Max Uthoff sind die gemeinsamen Autoren der Sendung – auch wenn nur zwei von ihnen vor der Kamera zu sehen sind. Wir haben den Fehler korrigiert und bitten um Entschuldigung!
Bild: Akademiedirektor Udo Hahn, die Sozialexpertin Andrea Betz sowie Dr. Dietrich Krauß, einer der Autoren der “Anstalt” während der Online-Debatte am 5. Februar 2021, während der auch die Zuschauer mitdiskutieren konnten. (Foto: Screenshot/ Evangelische Akademie Tutzing)
Sozialexpertin Andrea Betz fordert mehr Investitionen in soziale Einrichtungen. (Screenshot vom 5.2.2021)
“Die Anstalt”-Autor Dr. Dietrich Krauß vermisst sowohl Bewusstsein als auch angemessenes Handeln in der aktuellen Krisensituation. (Foto: Screenshot vom 5.2.2021)
Moderierte die Online-Debatte zur aktuellen Folge der “Anstalt”, in der auch die Zuschauerinnen und Zuschauer ihre Fragen stellen konnten. (Foto: Screenshot vom 5.2.2021)