Wie Erzählungen das Wirtschaftsgeschehen prägen
Ökonomik kann nie eine exakte Wissenschaft sein, weil es um Menschen geht, um ihre Gefühle und was sie wirklich wollen. Dessen ist sich Robert J. Shiller sicher. Der Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 2013 war Ende November zu Gast bei der Online-Tagung “Ökonomische Narrative im Kontext von Krisen”. Hier lesen Sie den Tagungsbericht.
→ Hier geht’s zum Video-Mitschnitt des Vortrags von Robert J. Shiller (YouTube)
Menschliche Überzeugungen und ihr Verhalten werden durch Emotionen und Geschichten bestimmt. Davon ist der Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 2013, Robert J. Shiller, überzeugt. Außerdem sieht er grundlegende Unterschiede zwischen der akademischen, von Logik geprägten Sprache und der menschlichen Kommunikation im Alltag. Der Vortrag von Robert J. Shiller (hier ansehen) war der Höhepunkt der dreitägigen Online-Tagung “Ökonomische Narrative im Kontext von Krisen” (weitere Infos hier). Studienleiter Martin Waßink begrüßte den renommierten Ökonomen, zugeschaltet aus seinem Wohnzimmerbüro in Yale (USA). Shillers Ende 2019 erschienenes Buch “Narrative Economics” (deutsche Übersetzung: “Narrative Wirtschaft: Wie Geschichten die Wirtschaft beeinflussen – ein revolutionärer Erklärungsansatz”) bildete die Grundlage für die Online-Tagung vom 27. bis 29. November an der Evangelischen Akademie Tutzing.
In seinem Vortrag zog Nobelpreisträger Shiller eine Parallele zwischen der Verbreitung von Narrativen und der Ansteckungs- bzw. Erholungsrate in der aktuellen Corona-Pandemie. Können wir also – wie in der Corona-Pandemie – mit epidemiologischen Mechanismen das wirtschaftliche Verhalten von Menschen allgemein analysieren? Shiller ist davon überzeugt, dass menschliche Verstehensprozesse ein virales Phänomen sind und Menschen sich nicht systematisch verhalten, da sich ihre Ideen und Haltungen im Laufe des Lebens ändern. Diese Veränderungen werden durch prägende Geschichten ausgelöst, die er als Narrative bezeichnet und die das menschliche Verhalten ab dem Zeitpunkt der Geburt bestimmten. Diese Narrative seien ansteckend und prägen auch (wirtschaftliche) Entscheidungen von Menschen.
Die Tagung: ein Forum für ökonomische Narrative und narrative Ökonomik
Narrative sind Bestandteil unseres gesellschaftlichen Diskurses. Auch in der Volkswirtschaftslehre werden zunehmend Narrative als wichtiges Phänomen benannt. Führende Forscher fragen nach ihrer Bedeutung für das menschliche Verhalten, gerade auch in Krisenkontexten, wie wir sie derzeit erleben: Welche Rolle spielen die Narrative dabei? Wie funktionieren sie genau? Wie definieren sie sich? Können sie vorherrschende rationale und nutzenmaximierende Paradigmen ablösen? Und welche Rolle spielen Medien?
Ökonomik sei die Disziplin, die das Verhalten von Menschen unter Knappheit untersucht, heißt es in Einführungsveranstaltungen zur Volkswirtschaftslehre. Oft öffnet sich dann ein mathematischer Instrumentenkasten als Kern methodischen Denkens sowie Maximierungs- oder Minimierungsrechnungen als Strategien für menschliche Entscheidungen. Die Online-Tagung stellte die zentrale Frage, ob hier nicht auch Geschichten, also Narrative, wesentliche Treiber sein können. Dabei schwang mit, ob es nicht auch innerhalb der Volkswirtschaftslehre eine “Narrative Ökonomik” brauche und wie diese aussehen könne. Aktuelle Bezüge lieferten die Analyse der Wirtschaftspresse zu Wirecard oder auch die der Rezeption des Diesel-Skandals in den Medien.
Wie versteht ein Wirtschaftsnobelpreisträger “Narrative”?
Shiller erinnerte, dass unsere Kommunikation seit der Geburt auf Geschichten beruhe. Als Homo sapiens würden wir sprechen, angefangen bei dem ersten verbalen Kommunikationsverhalten von Babys. Die typische menschliche Kommunikation habe mit universitärer, logischer Kommunikation nichts zu tun und sei von Geschichten und Erzählungen dominiert. Da Kommunikation zentral für unser Verhalten sei, strich Shiller die Bedeutung von Medien heraus, und gerade auch Social Media: “We are living in a new world now with Social Media”. Shiller berichtete, dass er für sein Buch, das er als Vermächtnis bezeichnete, viele Artikel aus alten Zeitungen gelesen habe. Er forderte auch die Teilnehmenden der Tagung zu Detektivarbeit auf und Narrativen auf den Grund zu gehen. Als Beispiel führte er die Erzählung an, dass neue Maschinen menschliche Arbeit ersetzen würde. Der Ursprung dieser Idee reiche weit zurück – in diesem Falle in das Jahr 400 vor Christus, als Aristoteles in seinem Werk “Politik” die Grundzüge der Automatisierungsthese beschrieb. Im Jahr 1811 wurde das Narrativ mit der Erfindung des Webstuhls wiederbelebt. Shiller sieht es heute fortgeführt, wenn Befürchtungen laut werden, nach denen Künstliche Intelligenz menschliche Arbeit ersetzen werde.
“Economics cannot be an exact science because it has to do with people and their feelings and what they really want.”
Die Disziplin der Volkswirtschaftslehre beschäftige sich, so Shiller weiter, kaum mit Lebensbezügen wie religiösem Verhalten, Fehlwahrnehmungen oder auch Loyalität. Narrative verbreiteten sich wie Ansteckungen und daher sei es wichtig, sich auf die Spur dieser Ansteckungswege zu machen. Shiller selbst sieht sich als Brückenbauer zwischen den Disziplinen: „I view myself of a kind of introducer, I try to get economists to listen to sociologists.“ Wenn er an seine eigene Universität denke, sehe er verschiedene andere Fakultäten, deren Arbeit er als wichtig für die Entwicklung einer narrativen Ökonomik halte.
Medienanalyse von Krisenkontexten – Dieselgate, Finanzkrise und Corona
Matthias Vollbracht, Leiter der Recherche von Media Tenor International AG in Zürich, gab zum Auftakt des Wochenendes einen Einblick über die Möglichkeiten der Medienanalyse, die die “data revolution” der vergangenen Jahre ermöglicht habe. Grundsätzlich gestalteten Medien maßgeblich mit, worüber Menschen nachdenken (“Agenda-Setting”) und wie sie darüber nachdenken (“Framing”). Es sei wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass Medien kein Abbild der Realität zeichneten, sondern eine Medienrealität erschafften, in der verschiedene Faktoren darüber entscheiden, ob ein Ereignis zur Nachricht wird: Frequenz, Intensität, Eindeutigkeit, Bedeutsamkeit (wie etwa kulturelle Nähe. Betroffenheit und Relevanz), Konsonanz (Erwartung, Wunsch), Überraschung und Kontinuität, Variation oder Bezüge zu Elite-Nationen oder Persönlichkeiten.
Medien wirken vor allem dort, wo sich Präsenz kumuliere und über die Wahrnehmungsschwelle gelange, die bei einem Themenanteil von 1,5 Prozent definiert sei. Das sei typischerweise in Krisen der Fall. Sobald eine Krise da ist, schalteten Medien den Weitwinkel aus und den Fokus ein. Besonders interessant findet Vollbracht, dass Medien während der Corona-Pandemie faktisch PR für die Pharmaindustrie gemacht hätten mit Blick auf die Fortschritte bei der Impfstoffentwicklung.
Die Auswirkungen auf die Reputation von Unternehmen sei dann besonders groß, wenn diese vorher als “unbeschriebene Blätter” gegolten hätten. Medienberichterstattung entscheide über die Wahrnehmung – diese wahrgenommene Realität werde im Anschluss entscheidungsrelevant. Anhand der Berichterstattung über die Finanzkrise ließen sich laut Vollbracht Indizien für eine systemische Vertrauenskrise des Finanzsektors ableiten, die bis heute andauere und in ihrem Ausmaß stärker ausfalle als während der “Großen Depression” der 1930er Jahre.
Die Berichterstattung über die Corona-Krise übersteige in bisher ungekanntem Ausmaß die Wahrnehmungsschwelle. Die Betonung der historischen Dimension der Krise zeigt starke Auswirkungen auf die Wahrnehmungen und Einschätzungen zur wirtschaftlichen Lage und Zukunft. Die Berichterstattung über “Dieselgate” zeigt etwa, dass Skandale in unterschiedlichen Ländern verschiedene Gewichte haben können und entsprechend unterschiedliche Folgen.
Wie Medienschaffende mit Narrativen umgehen – und in Krisen berichten
Nach dieser Einordnung aus kommunikationswissenschaftlicher und soziologischer Sicht sowie der Präsentation von Forschungsergebnissen über Nachrichten und ihren Wirkungen, ging es in einem weiteren Themenblock um den Alltag, die Praxis und die Herausforderungen im journalistischen Geschäft. Dazu begrüßte Dorothea Grass, Studienleiterin und Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, per Online-Schalte die Journalistin Nakissa Salavati von der Süddeutschen Zeitung und Kollegen: Lutz Knappmann von der Wirtschaftswoche und Wolfgang Messner vom Fachblatt Finanzjournalist sowie vom Verein Pro Recherche.
Salavati ging in ihrem Impuls auch auf das veränderte Verhalten von Leserinnen und Lesern ein. Diese befänden sich im Zeitalter der digitalen Medien und sozialen Netzwerke in einem “ständigen Nachrichtenfluss”. Die Redaktion orientiere sich insbesondere in ihrer Online-Arbeit am Tagesrhythmus der Userinnen und User – sie beeinflussten somit auch das Tagesgeschäft der Redaktionen.
Auf die Aufgabe der Chefredakteurinnen und Chefredakteure ging Lutz Knappmann, Chefredakteur von wiwo.de und Mitglied der Chefredaktion der Wirtschaftswoche, in seinem Impuls ein. Wo liegt seine Verantwortung inmitten von Berichterstattung, Einordnung und möglichem Bedienen von Narrativen? Er machte klar, worin er seine Aufgabe und die seiner Kolleginnen und Kollegen sieht: “Journalismus ist die Aufgabe!”. Er sehe es als ureigene Pflicht des Journalismus an, Narrative zu hinterfragen und zu entlarven. Das fange bereits bei den Informationen an, die ihn erreichten: Egal, ob in Pressemitteilungen, Hintergrundgesprächen oder bei Konferenzen. Wichtig sei, die Quellen bewerten zu können. “Warum erzählt mir jemand das? Welche Wirkung erzielt diese Geschichte?” – diese Frage sollte sich ein Journalist immer stellen, wenn ihn Informationen erreichten. Wichtig sei vor allem, dass Recherchen überhaupt stattfinden. Quellen überprüfen und verifizieren, Gegenüberstellen von widersprüchlichen Aussagen, gründlich recherchieren und bis auf die einzelne Kommastelle sauber arbeiten – Journalistinnen und Journalisten müssen ihr Handwerk beherrschen, berichtete Knappmann. Aus Erfahrung weiß er, dass falsche Kommastellen oder Schreibfehler in Artikeln willkommene Anlässe für Rechtsabteilungen und Anwaltskanzleien sind, um gegen Redaktionen einstweilige Verfügungen anzustrengen – und somit gegen unliebsame kritische Berichterstattung über Unternehmen vorzugehen.
Dass manchmal auch eigene Narrative entstehen, die vorher unterschätzt wurden, erzählte Knappmann anhand der Berichterstattung über die Bon-Pflicht (“Belegausgabepflicht als Teil der Kassensicherungsverordnung”), die im Januar 2020 rechtskräftig wurde. Eingeführt wurde sie, um Steuerhinterziehung, Manipulationen und Schwarzgeld entgegenzuwirken. Nach der Einführung setzte allerdings ein anderer Reflex ein: Einzelhändler beschwerten sich über den Aufwand, beklagten erhöhten Papiermüll. Die eigentliche Ursache für die Gesetzesänderung drohte aus dem medial vermittelten Blickfeld zu geraten.
Welchen Stellenwert die Recherche im Journalismus einnimmt, beleuchtete im Anschluss Wolfgang Messner, Chefredakteur des Fachblatts “Wirtschaftsjournalist” und Mitgründer des Non-Profit-Journalismus-Projekt “ProRecherche”. Er plädierte für eine verstärkte journalistische Selbstkontrolle und äußerte starke Kritik an seiner Branche. Anhand des Verlaufs des Falls Wirecard und dem Verhalten verschiedener Redaktionen in dieser Geschichte, attestierte er dem Journalismus in Deutschland gravierende Mängel und Fehlentwicklungen. Erstens seien die deutschen Wirtschaftsmedien zu unkritisch, vielen fehle es an Distanz zu den Quellen und Informationen der Unternehmen, die sie erreichten. Das sei zwar ein “menschliches Phänomen”, dennoch aber im Journalismus fehl am Platz. Zweitens beklagte er, dass zu wenige Eigenrecherche in den Redaktionen stattfinde. Drittens würden die Leserinnen und Leser zu schlecht bedient werden: In den Texten fände sich zu viel PR von Unternehmen statt Journalismus. Außerdem sei das Festhalten am Korrespondentenprinzip in großen Affären wie etwa Wirecard stark kritikwürdig. Hinsichtlich der Wirecard-Berichterstattung äußerte er vor allem Kritik an dem journalistischen Verhalten des Spiegels, des Manager Magazins und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die Süddeutsche Zeitung und die Wirtschaftswoche hätten sich da besser geschlagen. Messner forderte mehr Recherche statt “Kolportage”, einen erhöhten Stellenwert von eigenen Rechercheteams innerhalb von Redaktionen sowie Systeme der Kontrolle.
Narrative zwischen Ökonomik und Psychologie
Dr. Beat Gygi, Mitglied der Chefredaktion der Schweizer “Weltwoche”, versuchte sich am “Entlarven fehlgeleiteter Narrative guter Absichten”. Er stellte den konventionellen Paradigmen wie Eigennutz und Rationalität (“kalt, eigenverantwortlich”) alle Neuerungen der Verhaltensökonomik, die psychologisch fundierte Entscheidungstheorie sowie eine stärkere Betonung der kollektiven Perspektive (“warm, fürsorglich”) gegenüber.
Psychologische Erkenntnisse seien äußerst wichtig: Wenn Menschen auf bestimmte Fragen mindestens vier bis fünf Mal mit “ja” geantwortet hätten, würden diese auf der “Ja-Straße” soweit entlanggeführt, dass es psychologisch gesehen kein Zurück mehr gäbe. Gygi berichtete darüber hinaus von der aktuellen eidgenössischen Volksabstimmung zur Konzerninitiative ähnlich der Idee des deutschen Lieferkettengesetzes. Die Diskussion im Vorfeld der Abstimmung sei sehr emotional geführt worden.
Die Ökonomin Silja Graupe, Professorin für Ökonomie und Philosophie sowie Leiterin des Instituts für Ökonomie an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Bernkastel-Kues, möchte mittels sprachlicher Bilder “Gewohnheitsbilder” stabilisieren. Skizzierte Vorstellungsbilder von Ökonomien hätten “Narrationskraft”. Auch sie setzte mit ihrer grundsätzlichen Kritik beim konventionellen ökonomischen Postulat der “Berechenbarkeit” beziehungsweise der “Beherrschbarkeit des Menschen” an, was sich in der Überbetonung von Mathematik als Methode zeige. Graupe möchte es umdrehen und “aktive Gestaltung von Narrativen” betreiben. Dafür brauche es einen Perspektivwechsel auf den Menschen: die bildliche Transformation eines Eisbergs zu einem Planeten, bei dem auch die Dynamik im Erdinneren eine große Rolle spiele: Das “gesellschaftliche Magma” und dessen Dynamik müsse gestaltet werden, wenn es nicht zu Eruptionen in Form von Systemkrisen kommen solle. Sehr wichtig für die “aktive Gestaltung von Zukunft” sei die Imagination. Narrative spielen als “Hoheits- und Kerngebiet der Imagination” eine zentrale Rolle. Dazu gehörten, laut Graupe, Vorstellungskräfte und Erinnerungsbilder.
“I am constrained a little bit by the fact that I can´t learn everything”
Auch Nobelpreisträger Shiller plädiert für einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel. Seine Kritik: Die Ökonomik als wissenschaftliche Disziplin denke nur ökonomisch. Für ihn ist das eine Gefahr, die sich aus der Spezialisierung innerhalb der volkswirtschaftlichen Fakultäten ergibt. Shiller selbst beschäftige sich mit mehreren Disziplinen und in diesem Zusammenhang auch mit dem Phänomen Donald Trump: Aus Marketing- und Aufmerksamkeitsgesichtspunkten hält er Trump für sehr begabt. Am Beispiel des noch amtierenden US-Präsidenten argumentierte Shiller, dass paradoxe Ideen durch epidemisches Denken verstärkt werden, da immer nach jenen Geschichten gesucht werde, die die eigene Überzeugung bestätigten. So würden falsche oder bestenfalls fehlleitende Geschichten entstehen, die sich rasch verbreiten können. Geschickt erzählte Geschichten könnten zum gefährlichen “perfect storm” werden, wenn sie auf menschliche Emotionen träfen. Dieses Geschick habe auch Donald Trump.
Auch auf die Arbeit von Medienredaktionen (insbesondere mit Blick auf die USA) ging Shiller ein: Es gebe ihm zufolge eine starke Spaltung zwischen Nachrichtenredaktionen und allen anderen. Seiner Wahrnehmung nach seien Nachrichtenkonzerne sehr interessiert an Narrativen und würden diese bewusst verbreiten. Damit widersprach er Lutz Knappmann, der das Entlarven von Narrativen dezidiert als seine Aufgabe als Chefredakteur sieht.
Staatliches Handeln in der Krise und eine Bank unter der Lupe
“Wirken Konjunkturprogramme der aktuellen Wirtschaftskrise?” fragte Prof. Dr. Timo Wollmershäuser, der am ifo Institut die Abteilung für Konjunkturforschung und -prognosen leitet. Alle Forschungsinstitute seien sich einig, dass die beschlossenen Konjunkturprogramme das reale Bruttoinlandsprodukt erhöhen. Dieser sogenannte Fiskalmultiplikator ist bei ärmeren Haushalten höher als bei Reicheren. Das bedeutet, dass ein Prozent mehr an Einkommen bei einkommensschwächeren Haushalten direkt auf den Konsum schlägt. Reichere Haushalte wiesen stärkere Sparquoten auf, so dass Erleichterungen weniger direkt in den Wirtschaftskreislauf zurückflössen.
Wollmershäuser konstatierte mit Blick auf die aktuelle Pandemiesituation, dass die Wirkungen von staatlichen Maßnahmen zur Stützung der Konjunktur noch unsicher seien und in Szenarien gedacht werden müsse. Je größer die allgemeine Unsicherheit sei, desto größer wäre das Fenster für andere Faktoren – wie beispielsweise der Einfluss der Medienberichterstattung – auf wirtschaftliche Entscheidungen wie Investitionsentscheidungen. Er verwies auf die positiven Wirkungen der Konjunkturprogramme während des wirtschaftlichen Schocks der Finanzkrise, sodass er zuversichtlich sei, dass dies auch aktuell wieder zu einer wirtschaftlichen Stabilisierung führe.
Zum Abschluss der Tagung schlug Jan Köpper, Leiter Wirkungstransparenz und Nachhaltigkeit der GLS Gemeinschaftsbank eG Bankperspektive, vor, ganz bewusst positive Narrative über Geld zu etablieren, um Kundinnen und Kunden in die Transformation zu führen. Literarisch veranschaulichte er das an dem Gedicht “Geld ist Liebe” von Fabian Roschka und Philipp Tok. Als paradox empfinde er selbst, dass es Aufgabe des Finanzmarktes sei, das Wirtschaftssystem zu stabilisieren und gleichzeitig es aber nötig sei, genau dieses System in Frage zu stellen. Konkret stellte er ein interessantes Indikatorensystem für nachhaltige Finanzierung entlang der Frage vor: Wie integrieren wir demokratische und nachhaltige Kriterien in solch ein Indikatorensystem für bessere Investitionsentscheidungen?
Wie kann eine Toolbox einer narrativen Ökonomik aussehen?
Shiller betonte während seines Vortrags und der ausführlichen Fragerunde die Bedeutung verschiedener Disziplinen wie Physik, Psychologie und Soziologie für ein umfassendes volkswirtschaftliches Denken. Man könne erst dann abstrakte ökonomische Modelle entwickeln und der Komplexität unserer Entscheidungen gerecht werden. Konkret regte er fakultätsübergreifende Austausch an. Von seinen Fachkolleginnen und wünschte er sich, dass sie mehr mit der in der Soziologie üblichen Methode der “Fokus-Gruppe” arbeiten, bei der eine möglichst repräsentativ ausgewählte kleine Gruppe der Bevölkerung offen zu einem gewissen Thema diskutiert. Auch Politiker würden mit derartigen Erkenntnissen gewählt, wie man am Marketing- und PR-Profi Donald Trump sehen könne.
Über das Wochenende hinweg füllte sich ganz nebenbei ein Werkzeugkasten einer narrativen Ökonomik als Forschungsfeld der Volkswirtschaftslehre, bei der nicht die Mathematik als methodische Sprache enthalten war. In der Diskussion der Teilnehmenden wurde außerdem deutlich, dass es einen erhöhten Bedarf an Szenarienanalysen gibt – sowohl für Forschung als auch für Lehre. Die Notwendigkeit von Szenarien in der Lehre resultiere daraus, dass es Studierenden zunehmend schwerfalle, kreativ zu denken. Ein weiterer wichtiger Bestandteil sei die Medienanalyse, um mithilfe großer Datenbanken einen Teil der Sentiments von Narrativen messbar zu machen, also konkret die Frequenz und Tonalität von Themen.
Ob es wirklich zu einer Veränderung des volkswirtschaftlichen Denkens kommen wird? Robert J. Shiller zeigte sich hier grundsätzlich optimistisch. Seiner Erfahrung nach seien immer mehr Akademiker zunehmend offen für neue Ansätze. In der Fragerunde ermutigte er junge Ökonominnen und Ökonomen abenteuerlustig zu forschen, auch wenn man zeitweise aus der typischen akademischen Karriereleiter falle – Albert Einstein wäre es schließlich nicht anders gegangen, als er sich mit einem unterqualifizierte Nebenjob (“clerk”) über Wasser halten musste. Letztlich hätte es sich aber gelohnt, seinen “eigenen Kopf” zu haben und kreativ neue Wege zu beschreiten.
Martin Waßink, Mitarbeit: Dorothea Grass
Bild: Zugeschaltet von der Yale University in New Haven: Robert J. Shiller (Screenshot / eat archiv)