Wettbewerb als Schlüsselproblem

Er war zum Greifen nah: ein Branchentarifvertrag für die Pflege. Dass ausgerechnet die Kirchen ihn verhinderten, macht Dietrich Krauß, einen der Autoren der ZDF-Sendung “Die Anstalt”, fassungslos. Im Gespräch mit Akademiedirektor Udo Hahn und Andreas Korff, Sprecher der Dienstnehmer in der Arbeitsrechtlichen Kommission der Diakonie Deutschland, stand ein System auf dem Prüfstand, das viele Fragen aufwirft.

 

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Beschäftigte in der Pflege wurden schon früh in der Corona-Pandemie als “Heldinnen und Helden des Alltags” identifiziert. Andreas Korff, Mitarbeiter in der Verwaltung der Werkstatt für Behinderte Menschen in der Diakonischen Stiftung Wittekindshof (Bad Oeynhausen), hält das für eine “wichtige Erkenntnis”, denn die Pflegekräfte machten einen “harten Job, körperlich und psychisch”. Seit mehr als zwanzig Jahren setzt er sich für vernünftige Arbeitsbedingungen und angemessene Entlohnung in diesem Bereich ein. So ist er unter anderem stellvertretender Vorsitzender des Verbands kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Rheinland-Westfalen-Lippe (vkm-rwl). Auf Bundesebene ist er Vorsitzender des Fachausschusses der Dienstnehmer in der Arbeitsrechtlichen Kommission der Diakonie Deutschland (ARK DD) sowie Sprecher der Dienstnehmer in der ARK DD.

Den Mitarbeitenden in der Diakonie oder auch auf katholischer Seite bei der Caritas geht es im Vergleich zu den Beschäftigten anderer Träger deutlich besser, denn sie verdienen in der Regel mehr Geld. Dass ausgerechnet Diakonie und Caritas das Zustandekommen eines Tarifvertrags für Branchenmindestlöhne in der Pflege verhinderten, thematisierte die letzte Ausgabe der ZDF-Satiresendung “Die Anstalt” am 16. März. Dr. Dietrich Krauß, Journalist und neben Max Uthoff und Claus von Wagner Autor der Sendung, redet sich förmlich in Rage, wenn er die komplexe Struktur zu beschreiben versucht. Die Vielfalt der Träger, zu viele Eigeninteressen, die Rechte der Kirchen und die Kommerzialisierung eines Bereichs der Daseinsfürsorge hätten ein System geschaffen, auf das die Politik kaum Einfluss nehmen könne.

Verheerendes, gesellschaftspolitisches Signal

Wie kompliziert die Gemengelage ist, schildert Korff am Beispiel des gerade gescheiterten Tarifvertrags. Die Dienstnehmerseite der ARK DD wollte der allgemeinverbindlichen Vereinbarung der Gewerkschaft ver.di und der Bundesvereinigung Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) zustimmen. Zu einer Abstimmung sei es jedoch nicht gekommen, da die diakonischen Dienstgeber aufgrund der zuvor stattgefundenen Ablehnung der Arbeitsrechtlichen Kommission (AK) Caritas – verursacht durch deren Dienstgeberseite – eine Abstimmung für rechtlich nicht mehr notwendig erachtete. “Wir als Dienstnehmer wurden so unserer Stimme beraubt”, erregt sich Korff. Eine Nichtabstimmung komme einer Ablehnung gleich, was gesellschaftspolitisch ein verheerendes Signal gewesen sei. Dieses müssten jedoch die Dienstgeber allein verantworten. In der Berichterstattung über den Vorgang habe einzig “Die Anstalt” den Vorgang korrekt beschrieben – und auf darauf verwiesen, dass die Dienstnehmer von Diakonie und Caritas durch ihre jeweiligen Dienstgeber ausgebremst worden waren. “Wir wollten als Dienstnehmer ein Zeichen setzen”, so Korff.

Dem Verfahren zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung des Altenpflege-Tarifvertrags zwischen ver.di und der BVAP hätten die beiden kirchlichen Sozialverbände zustimmen müssen. In der Sendung hieß es dazu: “Die Kirche ist unabhängig vom Staat. Der Staat aber abhängig von der Kirche.” Den “Dritten Weg”, ein historisch gewachsenes Konsensprinzip in der Kirche, das ein Streikrecht ausdrücklich nicht vorsieht, hält Krauß für ein Relikt, das längst abgeschafft gehöre.

Warum gibt es Wettbewerb in der Pflege?

Andreas Korff will in diese Fundamentalkritik nicht einstimmen. Die Kirchen nähmen ihr im Grundgesetz verankertes Grundrecht wahr. Der “Dritte Weg” habe sich seiner Meinung nach aufs Ganze gesehen bewährt. Dies sehe man auch den Abschlüssen in der Diakonie, die lägen über dem Durchschnitt. Zudem gebe es gute Arbeitsbedingungen. Umso unverständlicher für Krauß, dass die Kirchen hier einen Glaubwürdigkeitsverlust in Kauf nehmen. Dies kritisiert auch Korff, der die Dienstgeber beim “Dritten Weg” klar “am längeren Hebel” sitzen sieht.

Im Grundsatz sind sich die beiden Diskutanten einig. Sie sehen im Wettbewerb das Schlüsselproblem. Dieser habe in der Pflege nichts zu suchen, so Korff. Pflegeplätze könnten nur dann kostengünstig bereitgestellt werden, wenn man die Gehälter niedrig halte. Dass die Unterfinanzierung in diesem Bereich ein Ende haben müsse, fordert Krauß auch mit Verweis auf rund 500.000 zumeist osteuropäischen Pflegekräfte, die für durchschnittlich zwei Euro Stundenlohn arbeiteten. Sie seien das Fundament der deutschen Altenpflege. Die Schieflage könne nur durch ein komplett neues System beseitigt werden. Generell brauche es die Bereitschaft, mehr Geld auszugeben, wie etwa in den nordischen Ländern. Auch müssten die Kommunen mehr Verantwortung übernehmen. Und die öffentliche Hand solle nur Verträge mit gemeinnützigen Trägern schließen.

Christian Bergmann

→  Den Videomitschnitt der Online-Debatte zur ZDF “Anstalt” können Sie auf unserem YouTube-Kanal abrufen. 

Bild: Udo Hahn, Andreas Korff und Dr. Dietrich Krauß während der Online-Debatte am 29. März 2021. (Screenshot eat archiv)

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