“Wer so drauf ist wie Sie, der hat keine Angst”
“Jetzt hat mich jemand mit seiner Rede erschlagen”, sagte der Theaterregisseur und Intendant Christian Stückl nach der Laudatio von Susanne Breit-Keßler. Er meinte das anerkennend. Die Regionalbischöfin a.D. hatte anlässlich der Verleihung des Toleranz-Preises der Evangelischen Akademie Tutzing in der Kategorie Zivilcourage eine Rede voller Bewunderung, Zugewandtheit und Witz an den Intendanten der Oberammergauer Passionsspiele gehalten. Hier können Sie sie nachlesen.
Sehr verehrter, lieber Christian Stückl, sehr geehrter, lieber Herr Akademiedirektor Hahn, sehr geehrte Damen und Herren!
Im Jahr 2004 erschien ein heftig umstrittener Film, die “Passion” von Mel Gibson. Das äußerst gewalttätige, blutrünstige und verdeckt antisemitische Opus soll uns hier nicht groß interessieren. Aber der knackig-brutale Kommentar von Christian Stückl schon. Er bemerkte: “O´zapft is.” Uff. Zwei Worte, die einem erst einmal Schnappatmung bescheren. Extrem kurz, sarkastisch, dass es einen umhaut, mit einem Schlegelschlag den Punkt getroffen von einem, der es besser kann als Gibson.
Sie sagten, lieber Herr Stückl, in dem zitierten Interview noch mehr. Präzise weisen Sie die Schwächen des Films nach und erläutern, was Sie wollen: Zeigen, dass Jesus politisch war. Sie wollen von der Botschaft Jesu, von seiner Konfliktbereitschaft und seiner Geradlinigkeit erzählen, mit der er durchs Leben gegangen ist – um dann zu vermitteln: Für diese seine Geradlinigkeit, für die Unbedingtheit seines Lebens, seine konsequente Wahrheitssuche, hat ihn keiner ausgehalten. Dafür musste er ans Kreuz.
Sie sind nicht Jesus. Aber Ihre persönliche Gradlinigkeit, Ihre individuelle Wahrheitssuche, die manchen auch schon zur Weißglut gebracht hat, hat die Akademie Tutzing veranlasst, Ihnen in der Abteilung Toleranzpreis die Auszeichnung für Zivilcourage zu verleihen. Ihr Engagement gegen Antisemitismus und Rassismus ist eindrucksvoll. Ihre Inszenierungen sind leidenschaftliche Plädoyers gegen jede Menschenverachtung. In diesen bösen Tagen, die wir gerade erleben, ist Ihre Botschaft wieder besonders notwendig.
Es ist Aufgabe der Kunst, des Theaters, übrigens auch der Kirche, nicht im Vorfindlichen aufzugehen, sich nicht zufrieden zu geben, mit dem, was eben so ist. Wenn Kunst ihre Arbeit gut macht, transzendiert, überschreitet sie Grenzen, eröffnet Perspektiven, bricht auf zu neuen Horizonten. Sie, lieber Herr Stückl, machen Ihre Aufgabe überwältigend gut. Ihr menschlicher und künstlerischer Beitrag zu einer friedlichen, pluralen und anregenden Gesellschaft, in der Menschen miteinander auskommen, ist unübersehbar und unverzichtbar.
Mit dem Toleranzpreis ehrt die Evangelische Akademie Tutzing seit der Jahrtausendwende Persönlichkeiten, die sich für die Verständigung zwischen Menschen, Nationen, Religionen und Kulturen einsetzen. Politiker sind darunter, eine Juristin und Menschenrechtsaktivistin, Künstler. Sie, Herr Stückl, bekommen den Preis in der Kategorie “Zivilcourage”. Die Akademie würdigt damit Menschen und Initiativen, die sich für Benachteiligte einsetzen, beispielhaft mutig, beherzt und verantwortungsbewusst handeln.
Ich finde diese Pointierung trefflich. Denn – halten Sie sich jetzt bitte fest – tolerant im Ursprungssinn des Wortes sind Sie eigentlich nicht. Bereit, eine andere Anschauung, Einstellung, andere Sitten, Gewohnheiten gelten lassen? Nicht selbstverständlich und automatisch, nicht, wenn Sie sie als falsch, als gefährlich und womöglich zerstörerisch erkannt haben. Das tolerieren, das ertragen Sie überhaupt nicht. Sie werden im besten Fall grantig, eher aber wild und fuchtig, wenn Sie erkennen, was eben gerade nicht zu tolerieren ist.
Sie sind kein gütiger Pontifex, kein charmanter Brückenbauer, niemand, der Brücken errichtet, über die es gelingt, flanierend im Sonntagsstaat von einem Ufer zum anderen zu gelangen. Sie, Herr Stückl, zimmern leidenschaftlich Pontons, die über reißende Wasser führen und bei denen man sich fragt: “Kann das verflucht nochmal gut gehen?” Das ist bewundernswert, großartig und unfassbar anstrengend und aufregend. Ihre Gegenwart ist herausfordernd. Sie packt einen und lässt nicht mehr los, selbst wenn Sie abwesend sind.
Sie haben Stücke wie “Ghetto”, “Der Stellvertreter”, “Nathan der Weise”, “Hiob” oder “Der Kaufmann von Venedig” genauso wie den Passion radikal von Anti-Judaismen, von Antisemitismus befreit. Der Passion heißt es in Oberammergau. Neue Maßstäbe haben Sie bei der Wahl der Spieler und Spielerinnen gesetzt. Verheiratete Frauen dürfen seit über dreißig Jahren die Maria spielen – vorher ein Tabu. Schon in Ihrer ersten Passion bekam ein Protestant eine Hauptrolle.
Sie verstehen, en passant formuliert, dass ich doppelt begeistert bin. Meinen Kindertraum, einmal die Maria zu geben, kann ich leider trotzdem nicht mehr verwirklichen. Dafür haben inzwischen auch muslimische Oberammergauer Hauptrollen übernommen. Einer beginnt wie der Protestant damals mit der Rolle des Judas. Frauen hochachten, Evangelische vorkommen lassen, Muslime einbinden, auch wenn sie erstmal Verräter spielen – das ist nicht tolerant, sondern couragiert in jeder Hinsicht.
Der vom katholischen Ortspfarrer sintemalen prophezeite Weltuntergang hat nicht stattgefunden. Da schau her. Der liebe Gott ist offenbar mutiger und beherzter als die Kirche. Aber Stückl wäre nicht Stückl, wenn er nicht längst weiterdenken würde, wie er die Schmerzgrenze noch verlagern könnte. Ein Muslim als Jesus, raunte er mir mal ins Ohr und ich dachte an die Schnappatmung bei “O´zapft is!”. Man hat das Gefühl, wenn Sie, Herr Stückl, etwas erreicht haben, setzen Sie sich umtriebig das nächste Ziel.
Vermutlich kommt irgendwann eine Frau als Jesus. Ja, das ist es, was Sie erreichen: Man denkt selbst über ver-rückte, neue Ideen nach, entwickelt Alternativen, die neue Horizonte eröffnen. Sie sind, lieber Herr Stückl, provokant, weil Sie einen provocare, herausrufen aus den bierdimpfeligen Herrgottswinkeln dieser Welt, in denen man vorurteilsvoll beieinander hockt und unhinterfragt das vor sich hinredet, was man immer schon gesagt hat. Das mögen Sie nicht – und zwar auf hohem Niveau nicht.
Ich bewundere Sie für Ihre umfassenden literarischen und theologischen Kenntnisse. Sie kennen Autoren wie die Inhalte säkularer und geistlicher Werke extrem gut und können locker mit Literaturwissenschaftlern und Theologen mithalten. Um das Letzte Abendmahl zu durchdringen und möglichst authentisch darzustellen, haben Sie mit einem Rabbiner zusammengearbeitet. Danach konnten die Schauspieler korrekt die hebräischen Texte sprechen. Was Sie anderen zumuten, ist immer, ist ausnahmslos fundiert.
De profundis – Sie denken, sprechen und agieren aus der inneren Tiefe heraus. Mit einer unfassbaren Energie. Ich habe Menschen erlebt, die nach einer halben Stunde Führung durch das Passionstheater völlig ausgelaugt waren. Sie sind ein Kraftfeld, lieber Herr Stückl, das andere zunächst auspowert, um sie anschließend bereichert, beglückt und mit viel Neuem im Hirn und im Herzen zu entlassen. Wenn man mit Ihnen beieinander war, kann man hinterher nicht viel anderes machen als dem nachzuspüren, was gerade gewesen ist.
Wer so drauf ist wie Sie, der hat keine Angst, denn Angst ist Enge. Und Sie, lieber Herr Stückl, sind Weite und Offenheit. Sie sind ein kosmopolitischer Bayer, ein Gegenstück zu aller unterstellten und tatsächlichen Tümelei im Freistaat. Sie sind Bayern, wie ich es mag. Einmal war ich couragiert Ihnen gegenüber, als ich sagte, dass niemand katholischer sei als Sie. Da haben Sie, so hat man mir erzählt, eine Stunde lang ärgerlich gegrummelt. Aber es stimmt: Sie sind treu und leben weltumspannend.
Katholos: An das Ganze denken, beweglich, reformerisch sein, menschendienliche Neuerungen energisch vorantreiben. Das hat nicht unbedingt etwas mit Institutionen zu tun. Aber mit Ihnen. Toleranz, tolerare, ertragen. Nein. Sie, Herr Stückl, wollen mehr, wollen Respekt für alle Menschen. Es hat mich sehr bewegt, dass Sie Ihren Herzinfarkt am Tag des Kriegsbeginns in der Ukraine hatten. Mir steht es nicht zu, das zu beurteilen. Ich bin wie alle Gott froh, dass Sie wieder da sind. Mich erinnert es einfach an Ihre große, große Empathie.
Jetzt nehme ich mir doch noch etwas heraus: Leider sind Sie nicht sehr tolerant sich selbst gegenüber. Oder zu sehr, lassen sich selber zu viel durchgehen? Sie arbeiten wie ein Berserker, rasen Ihre Wegstrecken ab wie ein freigelassener Tiger, rauchen wie ein Schlot … Ich denke sorgenvoll daran. Und dann wieder ist eine junge, schwangere Frau in der Besprechung mit Ihnen und Sie verlassen rücksichtsvoll den Raum und rauchen nur im Freien. Nicht sich selbst, aber den, die andere im Blick.
Als Genesungswünsche hat die tz Ihnen noch einmal geschrieben, was ich letztes Jahr zu Ihrem 60. formulierte. Wenn die das können, darf ich daraus auch ein kleines Stückl für den Stückl zitieren. Ich werde nämlich nie vergessen, wie Sie gestrahlt haben, als die Oberammergauer zum ersten Mal seit 1633 das Gelübde für die Passion erneuert haben. Sie strahlten, weil es zum ersten Mal einen ökumenischen Gottesdienst gab – mit einer evangelischen Frau im Bischofsamt, die richtig predigen durfte.
Dieses Strahlen vertiefte sich in Ihrem wilden, zornigen, liebenswürdigen Gesicht mit den feurigen Augen, als auch der Eröffnungsgottesdienst ein Jahr später ökumenisch war und dieselbe Frau das Evangelium verkündigte. Zivilcourage auch in den Kirchen. Sie beben vor Leidenschaft für ein tief humanes Miteinander. Jeder, jede soll in der Gesellschaft einen anerkannten Platz haben. Mit Leib und Seele verkörpern Sie beim Planen, Reden, Inszenieren, Erklären den wütenden Propheten genauso wie den donnernden Evangelisten.
Das bezieht sich bei Weitem nicht allein auf die Passion. Sie haben couragiertes Theater und mutige Oper gemacht in Frankfurt, Hamburg, Hannover, Köln, Wien und Zürich genauso wie bei den Ruhrfestspielen. Sie machen es in München – halleluja! Sie spielen Tankred Dorst, Ibsen, Shakespeare, Schiller, Stefan Zweig und Thomas Mann, Verdi, Wagner, Christopher Marlowe und Hofmannsthals “Jedermann in Salzburg”. Man spürt Ihre Auseinandersetzung mit Scorsese, Zeffirelli und vor allem mit dem großartigen Pier Paolo Pasolini.
Nichts ist retro an Ihrer Kunst – alles ist immer neu nachdenkenswert und zu Herzen gehend. Man darf auch nicht vergessen, dass André Heller Sie beauftragte, die Eröffnungsfeier der Fußball-WM 2006 in München zu inszenieren. Da haben Sie sich nicht unmittelbar für Benachteiligte eingesetzt. Aber selbst bei diesem Event haben Sie Freaks wie mir beispielhaft, beherzt, leichtfüßig und verantwortungsbewusst Bayern, Deutschland und die große weite Welt präsentiert.
Menschenfreundliche Verbundenheit – das haben wir so nötig. Ihr Kampf dafür geht Gott sei Dank weiter, das Feuer lodert in Ihnen, die Passion für den Passion und die eigene Zivilcourage. Als Evangelische lesen wir gerne die Losung und den Lehrtext für jeden Tag. Mit Spannung habe ich nachgeforscht, wie die denn am Tag Ihrer Geburt lauteten. Die Losung war aus Jeremia 17,13: “Alle, die dich verlassen, müssen zu Schanden werden; denn sie verlassen den Herrn, die Quelle des lebendigen Wassers.”
Der Lehrtext stammt aus Johannes 4,10: “Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken! du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser.” Sagte ich es nicht? Prophet und Evangelist, der Stückl in einem Stück… Es geht um die himmlische Lebendigkeit, die uns schon auf Erden geschenkt und aufgetragen ist, sie zu bewahren. Nicht nur die eigene, auch die aller anderen Menschen. Sie, lieber Herr Stückl, fließen über vor Ideen, sprudeln vor Einfällen und sind Ursprung erfrischender Gedanken.
Lieber, verehrter, bewundernswürdiger Herr Stückl! Ich gratuliere zur Auszeichnung der Evangelischen Akademie Tutzing, zum Preis für Zivilcourage. Sie haben ihn wahrlich verdient mit allem, was Sie auf uns loslassen, was uns packt und nicht mehr freigibt – höchstens zu einem Leben voller Mut, Herz und Verantwortung. Deshalb äußere ich am Ende noch tapfer die Bitte: Haben Sie acht auf sich. Sie sind eine grandiose Herausforderung, die wir dringend brauchen, um dieses Leben couragiert menschenwürdig zu gestalten.
Susanne Breit-Keßler
Den Bericht können Sie hier nachlesen
Bild: Die Laudatorin und der Preisträger nach der Verleihung des Toleranzpreises am 31. März 2022 in Oberammergau (Foto: Haist/eat archiv)