Wenn die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen …
Wie intelligent ist Künstliche Intelligenz (KI) wirklich? Was stellt sie mit den Medien an? In seinem Blogbeitrag räumt Philipp Welte, Journalist und Vorstandsmitglied bei Burda, mit Annahmen über KI auf und formuliert Herausforderungen für den Journalismus.
von Philipp Welte
In den letzten Wochen beschlich mich manchmal die Sorge, unsere ganze Branche würde kein wichtigeres Thema kennen als “künstliche Intelligenz”. Und ich frage mich: Ist das, was wir ohne größeren Zweifel “intelligent” nennen – also mit einem für den Menschen wichtigsten Prädikat auszeichnen – wirklich intelligent?
Ganz sicher nicht. Das, was wir heute in einer sonderbaren Form der intellektuellen Unterwürfigkeit oder konformistischen Angepasstheit “künstliche Intelligenz” nennen, ist genau dieses nicht: intelligent. Chat GPT und seine zahllosen Brüder und Schwestern sind effiziente Kopiermaschinen, ausgebildet durch die Lektüre all dessen, was wir Menschen jemals geschrieben haben. Sebastian Thrun nannte es in einem Beitrag im Handelsblatt diesen Sommer “einen gigantischen Papagei”. KI schreibt einfach ab, und eigentlich wissen wir seit der Schule das intellektuelle Kapital derer, die abschreiben, ganz gut einzuschätzen.
Warum also überhöhen wir ein Programm, ein System so sehr, dass wir es “intelligent” nennen? Intelligenz ist die menschliche Fähigkeit, auf der Basis Hunderter von relevanten Informationen aus den verschiedensten Quellen, die über die unterschiedlichsten Kanäle in unserem Gehirn landen, zu tun, was zu tun ist. Also: zu entscheiden, um zu überleben. Um die Zukunft zu gestalten. Diese Intelligenz ist der Motor der Evolution. Deshalb sind wir, was wir sind.
KI hat keine Seele, kein Gewissen. Sie ist ein Werkzeug.
Uns Medienleute emotionalisiert KI massenhaft eigentlich erst seit letztem Herbst. Warum? Weil es uns in der Ausprägung von “generativer” KI am Fundament unserer Wertschöpfung erreicht: nicht in der Verbreitung von Inhalten, sondern unmittelbar in ihrer Erstellung. “Generativ” heißt “erzeugend”, und wir Verlagsleute leben davon, dass wir Inhalte erzeugen – und dann publizieren. Journalisten und Journalistinnen recherchieren, analysieren, schreiben, veröffentlichen. So wie Egon Erwin Kisch seine verstörenden Erlebnisse im ersten Weltkrieg als Reporter aufgeschrieben hat. “Schreib das auf, Kisch!”, haben seine Kameraden gesagt, und er hat die Wahrheit von der Front in das Leben der Menschen gebracht.
Genau das tut KI nicht. KI unterscheidet nicht zwischen Fiktion und Realität. KI tut, was man ihr aufträgt. Manipulation, Lüge, Betrug … KI hat keine Seele, kein Gewissen. Sie ist ein Werkzeug. Der Mensch kann mit einem Spaten einen Baum einpflanzen oder seinen Nachbarn erschlagen. Gut oder böse: diese Entscheidung trifft nicht das Werkzeug, sondern der, der es nutzt.
Die Frage, die uns in den letzten Monaten umtreibt: Was wird künstliche Intelligenz mit uns, mit unserer Gesellschaft machen? Wer stellt in der nächsten Stufe der digitalen Transformation der Medienwelt sicher, dass über die Wirklichkeit auch wahrhaftig berichtet wird, dass das aufgeschrieben wird, was ist – und nicht, was sein könnte oder gar sein sollte? Uns betrifft das sehr unmittelbar und emotional, denn das für uns Außergewöhnliche an diesem Technologiesprung ist – wie gesagt – dass er den Kern unserer Wertschöpfung anfasst.
Was wir für uns beantworten müssen, ist in erster Linie keine technologische Frage, auch keine kaufmännische. Es ist eine ethische Fragestellung: Wie wollen wir mit den Chancen und den Risiken umgehen?
“Content” oder Journalismus?
Sicher ist, dass diese neue Stufe der technologischen Entwicklung uns – die Verlage und ihren Journalismus – darin unterstützen wird, entlang unserer gesamten Wertschöpfungskette schneller, besser und effizienter zu werden. Künstliche Intelligenz ist ein hoch relevantes Werkzeug in der Hand von verantwortungsbewussten Redaktionen. Generative KI wird Prozesse beschleunigen und vereinfachen und durch Effizienzgewinne Freiräume schaffen für unsere wichtigste Aufgabe: noch besseren Journalismus.
Fakt ist aber auch, dass generative KI einen wahren Höllensturm an gefälschten und manipulierten Inhalten entfesseln wird, der unsere Gesellschaft überrollen wird. Die Produktion, Aggregation und Verbreitung von konsumierbarem “Content” – wohlgemerkt: nicht Journalismus – wird in einem noch nie dagewesenen Ausmaß möglich: schnell, billig, passgenau. Und egal ob zum Zweck der Monetarisierung oder schlicht zur Manipulation: Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion werden zunehmend verschwimmen.
Und hier beginnt die eigentliche Perspektive für uns, denn als Reaktion auf den Tsunami an massenhaft produziertem Müll werden die Menschen immer stärker nach Marken und Informationsquellen suchen, denen sie vertrauen. Und Unternehmen werden für ihre Werbung gut ausgeleuchtete, vertrauenswürdige Kanäle suchen und sich von den Abgründen in den sozialen Massenmedien abwenden. Das ist unsere Chance.
Vertrauen als Währung
Vertrauen wird für uns in der Welt des Journalismus, des Publizierens mehr denn je die wertvollste aller Währung. Unser Versprechen der “Verantwortlichkeit im Sinne des Presserechts”, unsere Verpflichtung auf die Wahrhaftigkeit der Inhalte, die wir transportieren, ist das Fundament dieses Vertrauens. Deshalb ist die klare Unterscheidung zwischen überprüfbar qualitativ hochwertigen Inhalten in unseren Medien und mit KI massenhaft produziertem Content auf der anderen Seite ein wichtiges Qualitätskriterium.
Wir müssen die Wahrheit, die verlässliche Weitergabe dessen, was ist, als Konzept stärken und Vertrauen als Währung etablieren. Das ist unser ethischer Auftrag – und es ist unsere Chance auf den Medienmärkten von morgen. Wir – die Fachmedien, die konfessionelle Presse und die Publikumsmedien – sind in unserer Gesamtheit der wertegebundene Gegenentwurf zu der Flut an manipulativem oder schlicht komplett belanglosem Content, mit denen die Menschen heute in einer unübersichtlich gewordenen Medienwelt konfrontiert sind – und diese Flut wird durch Künstliche Intelligenz unweigerlich steigen.
Und genau deshalb ist der Auftrag der Verlage, hier in Deutschland eine freie und verantwortliche Presse zu gewährleisten, so wertvoll wie nie zuvor! Wenn die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen, wenn es den Menschen zunehmend schwer gemacht wird, zwischen Wirklichkeit und individuell optimierten Wahrheiten zu unterscheiden, sind wir gefordert. Wir Verlage sind elementare Teile unserer pluralistischen Demokratie und stabilisierende Kräfte unserer Gesellschaft. Unsere Verantwortung basiert auf journalistischer Sorgfaltspflicht und auf der Selbstverpflichtung auf die Wahrhaftigkeit unserer Inhalte.
Die Wirklichkeit so aufzuschreiben, wie sie tatsächlich und wahrhaftig ist: das ist unsere Mission, unser Auftrag. An diesem Auftrag hat sich in drei Dekaden der digitalen Transformation nichts geändert: Der Journalismus der Verlage ist das Fundament für den verlässlichen Austausch von Wissen, von Information und von Meinungen in Deutschland.
Über den Autor
Philipp Welte ist gelernter Tageszeitungsjournalist. Nach dem Studium der Politikwissenschaften und der Empirischen Kulturwissenschaft arbeitete er zunächst als freier Journalist. Nach Stationen beim MDR, Hubert Burda Media und Axel Springer wurde er 2008 in den Vorstand von Hubert Burda Media berufen und verantwortet dort seither das nationale Verlagsgeschäft des Konzerns.
Bild: Philipp Welte (Foto: @Max-Louis Köbele für Hubert Burda Media)