Was uns verbindet – Rückblick auf den Tag des offenen Denkmals
1041 Besucher in gut vier Stunden – und zwar ganz ohne Tagung und ohne Konzert. Der Tag des offenen Denkmals stieß an der Evangelischen Akademie Tutzing auf ein bemerkenswertes Interesse.
Das kleine dunkelhaarige Mädchen sitzt in der Rotunde, dem Auditorium der Evangelischen Akademie Tutzing, und hält ein Mikrofon in der Hand. Sie erzählt: „Am liebsten mag ich Nudeln mit Soße.“ Von den grauen Sitzpolstern um sie herum lassen ein gutes Dutzend weiterer Kinder ihre buntbeschuhten Füße baumeln. Mit großen Augen schauen sie auf Selina Urbanek. Die ehemalige FSJ-lerin der Akademie bietet heute, am Tag des offenen Denkmals, auf dem Schlossgelände eine Führung extra für Kinder an. Sie erklärt, was in dem rund gebauten Raum passiert, wenn Tagungen stattfinden und sich die Referenten und Teilnehmer hier austauschen. Genau dann geschieht nämlich das, was das Mädchen gerade nachspielt: Menschen sprechen in Mikrofone. Das Mädchen möchte „ihr“ Mikrofon nun fast nicht mehr loslassen und auch noch erzählen, was ihr Bruder am liebsten isst. Selina Urbanek lacht und lässt die Kleine gewähren. Kurz darauf bricht die Gruppe wieder auf: Die Kinder wollen unbedingt noch die Salons im Schloss sehen bevor sie sich auf „Löwensafari“ in den Park begeben. Die Aufgabe lautet: Wer die meisten Löwen findet, hat gewonnen!
Die Kinder rennen weg: Vorbei an den Eltern und den vielen weiteren Besuchern, die heute zum Tag des offenen Denkmals, den Weg nach Tutzing gefunden haben, um sich das Schloss und das weitläufige Parkgelände der Evangelischen Akademie anzuschauen.
Auf Entdeckungstour durch Schloss, Park und Akademieräume
„Entdecken, was uns verbindet“ lautet das Motto in diesem Jahr. Auf dem Gelände der Evangelischen Akademie gibt es davon einiges zu berichten. Zum Beispiel, was das Schloss mit der Gemeinde Tutzing und der Europäischen Geschichte verbindet. Die Historie dieses Ortes ist eines der Themen, das die Besucher heute am meisten interessiert. Viele begeben sich in den Musiksaal, um dort den Kurzvortrag des Akademiedirektors Udo Hahn zum Thema zu hören.
Sie erfahren, dass das Schloss, so wie es heute dasteht, etwa 200 Jahre alt ist und von Friedrich Graf von Vieregg erbaut wurde. Der Geschichte des Grundes, auf dem das Schloss errichtet wurde, reicht jedoch weit länger zurück – nämlich bis zu Beginn des 6. Jahrhunderts n. Chr. als sich hier die Sippe der Tozzi oder Tuzzo niederließ. Um 1480 erwarb das Münchner Patriziergeschlecht der Dichtl den Ort und errichtete eine Hofmark mit Wohnturm. Im Dreißigjährigen Krieg kamen schwedische und kaiserlich-spanische Truppen nach Tutzing. Das Schloss brannte ab – und wurde im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts wieder aufgebaut – bevor es an die Grafenfamilie von Vieregg ging. Bis das Schloss 1947 von der Evangelischen Kirche gekauft wurde hatte es mehrere bemerkenswerte Besitzer: Eduard von Hallberger, den Gründer der Deutschen Verlagsanstalt, Marczell von Nemes, Kunstsammler und exzentrische Erscheinung, Albert Hackelsberger, Industrieller und Zentrumspolitiker, die Unternehmerfamilien Kaselowksy und Oetker, kurzzeitig sogar die Stadt Stuttgart.
Das Schloss Tutzing als Zeuge europäischer Geschichte
Akademiedirektor Udo Hahn könnte noch viel mehr dazu erzählen, doch die Zeit des Vortrags ist vorbei. Die Besucher schlendern weiter, am Rosengarten vorbei, in dem die Studienleiter der Akademie Fragen zu ihren Veranstaltungen beantworten und im Gespräch mit Interessierten auch Ideen und Anregungen für weitere Tagungen mitnehmen. Einige Besucher tragen Radbekleidung – sie haben den Tag des offenen Denkmals als Gelegenheit zu einem Sonntagsausflug mit dem Rad genutzt. Andere haben ihre Badesachen dabei und steuern zielstrebig den Badesteg am Ufer an, um den heißen Spätsommertag von hier aus für einen Sprung in den angenehm kühlen Starnberger See zu nutzen.
In der Rotunde hat sich die stellvertretende Akademieleiterin Judith Stumptner mit ihren Studienleitungs-Kollegen Julia Wunderlich, Dr. Ulrike Haerendel und Dr. Jochen Wagner eingefunden, um – ebenfalls in einem Kurzvortrag – zu erläutern, worum es der Akademie in ihrer Arbeit geht.
„Wir verstehen uns als Ort der Bildung durch Diskurs, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft – Politik, Kultur, Medien, Kirche – zusammengebracht werden, um den Austausch untereinander zu fördern und gemeinsam nach guten Lösungen für aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen zu suchen.“, so Judith Stumptner. Die leitenden Werte seien hierbei Toleranz, Weltoffenheit und christliche Verantwortung. Ein wichtiges Anliegen, so Judith Stumptner, sei es, Experten aus verschiedenen Disziplinen, „die unter normalen Umständen nicht miteinander reden“, an diesem Ort zusammenzubringen. Sie betont, dass die Konferenzen in der Regel für jeden Interessierten offen sind.
Spuren, die die Akademie hinterlassen hat
Nicht nur schöne Gedanken sollten an diesem schönen Ort verhandelt werden, fügt Dr. Jochen Wagner hinzu. Er zitiert Bertolt Brecht: „Wenn es einen Gedanken gibt, den du nicht kennst, denke den Gedanken. (…) Du darfst es.“ Die Evangelische Akademie Tutzing als Denkwerkstatt am Starnberger See hat viele Spuren hinterlassen. Judith Stumptner erinnert etwa an Egon Bahr und sein Motto der deutschen Ostpolitik „Wandel durch Annäherung“, an die Gründung der Organisation „Pro Asyl“ oder der Straßenzeitung „Biss“, den „Tutzinger Aufruf zur Rettung der Wälder“ – oder auch das mittlerweile in 65 Sprachen übersetzte Lied „Danke für diesen guten Morgen“, das seinen Ursprung bei einem Liederwettbewerb der Akademie hatte.
Das kleine Mädchen, das vorhin in der Rotunde saß, steht nun draußen im Schlosshof zwischen den Ständen des Freundeskreises und der Stiftung Schloss Tutzing. Es ist zurück von seiner Löwensafari und erzählt verschwitzt seinen Eltern, dass es 32 Löwen gefunden habe: auf Bildern, in Statuen und Zeichnungen. Ein anderes Kind habe sogar über fünfzig gefunden! Nur schade, sagt es, dass es hier keine echten Löwen gibt.
dgr