“Was ist ein politisches Gedicht?”

Volha Hapeyeva kommt aus Minsk, der Hauptstadt von Belarus. In ihre Heimat kann die mehrfach ausgezeichnete Lyrikerin, Autorin, Übersetzerin und Linguistin momentan nicht zurückkehren. Unterschlupf hat sie aktuell im Künstlerhaus Villa Waldberta in Feldafing gefunden. Am 26. Oktober ist sie zu Lesung und Gespräch zu Gast im “Tutzinger Salon”. Studienleiterin Alix Michell hat ihr vorab Fragen zu ihrem lyrischen Schaffen gestellt.

Infos zur Veranstaltung am 26. Oktober finden Sie hier.

Alix Michell: Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Sprache beschreiben? Was bedeutet Sprache für Sie?

Volha Hapeyeva: Ich denke, für mich sind Sprachen wie Menschen. Ich bin Linguistin von Beruf und habe im Laufe meines Lebens mit verschiedenen Sprachen gearbeitet. Doch das Interesse dafür begann schon früh. Ich erinnere mich an die Sommer, die ich bei meinen Großeltern verbrachte. Hier fand ich nicht nur Bücher auf Belarusisch oder Russisch, sondern auch solche auf Deutsch und Französisch – der Großteil meiner Familie hat Sprachen und Literatur unterrichtet.

Ich hatte dort keine Freunde, also wurden die verschiedensprachigen Bücher meine Freunde. Ich versuchte, ihre Sprachen zu lernen und zu verstehen, wie sie funktionieren. Später, mit meiner Immatrikulation an der Staatlichen Linguistik Universität in Minsk, knüpfte ich auch mein berufliches Leben an Sprachen.

Ich denke viel über Sprachen als Phänomen nach, manchmal werden meine Gedanken zu Gedichten. So finden sich in meinen Gedichten viele Anspielungen auf Sprache als Konzept. Ich arbeite auch als Übersetzerin, so dreht sich mein Leben also viel um Wörter als solche. Ich glaube manchmal, ich habe schon so etwas wie eine “déformation professionnelle”, dann achte ich fast schon zu sehr darauf, wie ich spreche oder darauf, welche Wörter oder Wortkonstruktionen andere benutzen. Es ist beinahe obsessiv.

Und ja, manchmal bin ich auch wütend auf Sprache, wenn sie einfach nicht alle Nuancen und Feinheiten auszudrücken vermag. Dann empfinde ich Sprache als Gefängnis, wie Ludwig Wittgenstein sagte: “Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt”. Ich mag auch ein Zitat von Humboldt: “Jede Sprache zieht um die Nation, welcher sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer anderen Sprache hinübertritt”.

Gleichzeitig kann Sprache in Poesie regelrecht erblühen. Sie kann Verschlossenes öffnen und die tiefsten Saiten einer Seele anklingen lassen. Darum denke ich, dass Lyrik die geeignetste Form sprachlicher Existenz ist.

Ihre Texte waren nicht immer so explizit politisch wie manche von ihnen es heute sind. Wie kam es zu dem Wandel in Ihrem Arbeiten?

Plakative Gedichte sind für mich keine Poesie. Als Dichterin arbeite ich an der Sprache, es geht gerade darum, dass meine Leserinnen und Leser die Fallstricke der Wörter, die Festlegungen auf einen durch die offizielle Sprache beschränkten Erfahrungsraum erweitern und sich nicht mit dem zufrieden geben, was bloß oberflächlich ist. Poesie hat die Kraft der Übertragung, der Metonymien und Metaphern, sie bringt Menschen dazu anders zu denken. Was ist ein politisches Gedicht? Nur ein Gedicht gegen einen Diktator? Das wäre zu simpel. Der Begriff des Politischen muss weiter gefasst werden. In einem Gedicht über Abtreibung, oder über Männer- und Frauen-Rollen kann ich genauso politisch sein.

Für mich ist es wichtig, dass die Leserinnen und Leser diese Gedichte für sich selbst lesen, als offene Erfahrungsräume. Es stimmt sicher, dass der Krieg in der Ostukraine – die offizielle Benennung ist ja “Konflikt” – einen wichtigen Stellenwert in meinen Gedichten einnimmt, da ich für die OSZE offizielle Dokumente und auch die Briefe einfacher Menschen aus dieser Gegend übersetze. Die Grausamkeiten und die Gewalt gehen in diesem Prozess natürlich auch durch mich als Mensch hindurch – und die Gedichte sind ein Mittel, um diese Dinge zu verarbeiten. Für mich ist es wichtig, mit meinen Gedichten Fragen zu stellen, die für uns als Menschen wichtig sind, um diese Geschehnisse überhaupt auszuhalten – und vielleicht eine Position zu finden, diese Gewalt irgendwann zu verhindern.

Sie arbeiten nicht nur mit Sprache, sondern auch mit Musik. Wie sieht das aus und wie kam es dazu?

Das begann alles, als ich Künstlerinnen und Künstler der elektronischen Musik getroffen habe, die gerne mit mir und meinen Texten arbeiten wollten. Wir haben ein paar Alben produziert und dann hatte ich die Idee, audio-visuelle Performances zu machen, in der Hoffnung, damit auch ein Publikum für meine Texte anzuziehen. Ich wollte zeigen, dass sie auch theatral funktionieren und Lyrik nicht nur trocken oder zu intellektuell sein muss.

Oft ergeben sich in solchen Kollaborationen auch neue Interpretationen meiner Gedichte und neue Bedeutungen werden möglich und sichtbar. Tatsächlich mag ich die Idee einer Synthese der Künste sehr – darum arbeite ich auch so gerne mit anderen Kunstschaffenden zusammen, zum Beispiel mit der montenegrinischen Künstlerin Milijana Istijanovic, eine Zusammenarbeit, in der Installationen entstanden sind. Für November ist eine Ausstellung mit weiteren Künstlerinnen in Graz geplant. Die Idee ist, dass sie meinen Gedichten mit ihrer Arbeit begegnen.

Das Gespräch führte Alix Michell, Studienleiterin für Kunst, Kultur, Digitales und Bildung

Links zu den Performances von Volha Hapeyeva:

auf der Homepage der Künstlerin

auf dem YouTube-Kanal der Künstlerin

Gedicht “13. Oktober” von Volha Hapeyeva

gelbes blumenmuster

auf schwarzem grund

ich inspiziere das foto

und denke

ist das ein stück tapete oder ein vorhang?

wie ein blattloser baum im winter

gibt ein stuhl

in der ecke seine gelenke preis

und der himmel so blau

ein sonniger tag

13. oktober

Agrippina bringt ihrem mann

einen teller mit pilzen. er stirbt

vererbt ihrem sohn Nero den thron

Mahler gibt sein erstes konzert

Margaret Thatcher feiert geburtstag

Greenwich wird hauptmeridian

Laryssa und Nastja verfolgen die sendung

An Diesem Tag In Der Geschichte

bedeutende ereignisse und bedeutende menschen

schau, meine kleine Nastja, du musst schön was lernen

vielleicht erzählen sie dann auch einmal

im fernsehen von dir

Laryssa arbeitet in einem laden, Nastja

studiert medizin

mama wusstest du dass der oberschenkelknochen

im menschlichen körper der größte ist

und wir 100.000 kilometer lange

blutgefäße haben

das ist mein schlaues mädchen lass uns essen

schrapnellwunde am thorax

innere blutungen

schnittwunde am oberschenkel

schädelfraktur

ich lese den traumabericht

und denke:

wie das wohl ist

den längsten knochen mit eigenen augen zu sehen

nicht als anatomische figur im klassenzimmer

sondern im eigenen bein

und noch 20 minuten lang darauf zu hoffen

dass der krankenwagen kommt

um dich zu retten und mama und alle-alle

aber das ist hier das schussfeld

und der krankenwagen wird nicht kommen

und die 100.000 kilometer blutgefäße

sind auf einmal unnötig

weil das was durch sie floss

ausgeflossen ist

mama hier bin ich in den nachrichten

meine größte errungenschaft war wohl

durch mörserbeschuss

zu sterben

und weiter mit bitterem lächeln:

am internationalen tag der katastrophenvorbeugung

ein unbedeutender tag in der geschichte

unbedeutender menschen

 

Hinweis:

Volha Hapeyeva war vom 1. bis 3. Dezember 2017 anlässlich des Projekts “Helden unserer Zeit” zu Gast in der Evangelischen Akademie Tutzing. Dabei entstand auch ihr Text “Schwarzer Apfelbaum” (hier abrufen).

Mehr über das Projekt erfahren Sie hier.

Bild: Volha Hapeyeva (Foto: Helmut Lunghammer)

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