Was geschah vor der „Stunde Null“?
Ungeheuerlich war das Ausmaß der Gewalt in den letzten Kriegswochen des Zweiten Weltkriegs. Der Rückzug der deutschen Truppen aus Russland und der Ukraine etwa wurde begleitet von einer „Politik der verbrannten Erde“, wie es der Historiker Ulrich Herbert beschreibt. In seinem Onlinevortrag gab er einen Überblick über das Geschehen vor 75 Jahren in Deutschland und Europa.
Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert war als erster Referent bei der Tagung „Deutschland in der Stunde Null“ eingeplant, die wegen der Pandemie nicht im April 2020 stattfinden konnte. Er hat seinen Vortrag ersatzweise per Videoaufzeichnung in einer Kooperation mit der Volkshochschule im Norden des Landkreises München gehalten (hier ansehen). Sein bemerkenswerter Überblick führte die Ungleichzeitigkeit des Geschehens je nach Frontverläufen, andauernder deutscher Besatzung oder des eingeleiteten deutschen Rückzugs und Vordringens der Alliierten vor Augen.
Dabei machte er an vielen Beispielen deutlich, zu welch ungeheuren Dimensionen sich die Gewalt in der letzten Kriegsphase noch einmal steigerte. In Polen löste der Warschauer Aufstand vom Sommer 1944 eine „Vergeltungsaktion“ aus, die die Stadt dem Erdboden gleich machte. „In der Sowjetunion folgte die Wehrmacht bis zum letzten Tag den Grundsätzen des Vernichtungskrieges: Die Politik der verbrannten Erde, die gewaltsame ‚Mitführung der Zivilbevölkerung‘ kennzeichneten den Rückzug der deutschen Truppen aus Russland und der Ukraine.“ Besonders eskalierte die Gewalt dort, wo deutsche Truppen auf Partisanenwiderstand trafen – wie auch in Italien: „Der Hass auf die einst verbündet gewesenen und dann abgefallenen Italiener und die verbreitete Überzeugung einer engen Verbindung zwischen Partisanen und Zivilbevölkerung waren wirksame Faktoren, die zur Radikalisierung der deutschen Truppen beitrugen.“
Todesmärsche, Vertreibungen, neue Grenzverläufe
Neben der Stärke und der Brutalität der deutschen Herrschaft war freilich auch das Verhalten der alliierten Truppen von großer Bedeutung. Die militärischen Erfolge der Roten Armee gingen mit einer Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs einher: „In den Ländern Mitteleuropas, die nun bald unter sowjetische Vorherrschaft gerieten, erlitten die bei Kriegsende aufgeflammten Hoffnungen auf eine bessere, selbstbestimmte Zukunft bald eine jähe Enttäuschung.“ Auch die deutsche Bevölkerung im Osten des Reiches und in den angrenzenden Staaten begann vor den vorrückenden sowjetischen Soldaten zu fliehen. Später kamen die Vertreibungen und neuen Grenzziehungen dazu, die eine gewaltige Bevölkerungsverschiebung der Deutschen nach Westen auslösten.
Im Reichsgebiet selbst erodierte einerseits der Einfluss und das Ansehen der NSDAP, andererseits herrschten bis zuletzt lokale Parteifunktionäre, SS-Führer oder Behördenleiter, die bereit waren, jeden umzubringen, der erkennbar auf Kapitulation und Frieden setzte. Der Terror richtete sich insbesondere gegen die Millionen „Fremdarbeiter“ und KZ-Häftlinge, von denen viele in den letzten Tagen des Regimes noch ermordet wurden. Auch die von Himmler angeordnete Umsiedlung der Häftlinge aus den Konzentrationslagern kostete so viele von ihnen das Leben, dass sie als „Todesmärsche“ in die Geschichte eingegangen sind.
Bruch in Politik, Gesellschaft, Kultur und Recht
Als eine Antwort auf die Fragen, die wir an Herrn Prof. Herbert im Anschluss an seinen Vortrag richten durften, hob er noch einmal hervor, wie groß der Schock auch für die alliierten Soldaten war, als sie die Realität der Konzentrationslager zu erkennen begannen. Die große Ausdehnung des Lagersystems und die Dimensionen seines Vernichtungsapparates kamen durch die Leichenfunde und die entsetzlich geschundenen Überlebenden nach und nach ans Licht. Die Alliierten führten deshalb auch die deutsche Zivilbevölkerung an die Orte ihrer Schande, um ihnen die Ungeheuerlichkeit ihrer Schuld vor Augen zu führen.
Abschließend betonte Herbert generell nochmal, dass Konzepte wie das von der „Wolfszeit“ für die erste Nachkriegsphase eine Art Anarchie unterstellten, die aufgrund der Besatzungsherrschaft nicht gegeben gewesen sei. Auch Gewalttaten hätten bald keine große Rolle mehr gespielt. Der ebenfalls schon zeitgenössisch geprägte Begriff von der „Stunde Null“ habe dagegen seine Berechtigung: „Nie zuvor in der Geschichte der Neuzeit hatte es einen nachhaltigeren, tiefer greifenden Einschnitt gegeben als in diesem Moment. Bei allen Elementen von Kontinuität, die sich später oder früher bemerkbar machten: Ein schärferer Bruch in Politik, Gesellschaft, Kultur und Recht war kaum denkbar.“
Dr. Ulrike Haerendel
Bild: Prof. Dr. Ulrich Herbert während seines Online-Vortrags (Screenshot YouTube vhs.daheim)