Von versteckten zu offenen Kriegen
Narrative von Desinformationskampagnen in ost- und mitteleuropäischen Staaten: Videointerviews der Tagung “Desinformation: Der Krieg im Inneren” (10.-12.9.2021) zur Lage in der Ukraine, in Belarus, Litauen, Rumänien, Aserbaidschan, Armenien, Estland, Tschechien und Bulgarien.
Wem darf man glauben, welchen Quellen Vertrauen entgegenbringen? Welche Informationen entsprechen der Wahrheit und woran erkennt man Falschmeldungen? Fragen, die im Kontext des nun eskalierten Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland wieder zunehmend reflektiert werden müssen.
Bereits 2014 verbreitete Russia Today Behauptungen über massive Gewalt der Ukraine gegen die Separatisten-Gebiete im Osten des Landes, eine Geschichte die neben vielen anderen in den letzten Tagen und Wochen wieder und wieder kommuniziert wurde. Es sind Geschichten, die in regelrechten Kampagnen ein Narrativ bedienen, das die Ukraine zum Aggressor macht und den Einmarsch russischer Truppen legitimiert. Diese Form der systematischen Verbreitung von Falschaussagen zum Zwecke einer ideologischen Manipulation bezeichnet man als Desinformation.
Desinformation war auch das zentrale Thema unserer Tagung “Disinformation: Open Societies, Hidden Wars / Desinformation: Der Krieg im Inneren” vom 10. bis 12. September 2021, die wir in Kooperation mit der Bundeszentrale für Politische Bildung veranstalteten. (Hier können Sie den ausführlichen Bericht nachlesen.)
Darin widmeten wir uns den Narrativen von Desinformationskampagnen in ost- und mitteleuropäischen Staaten wie der Ukraine, Bulgarien, Rumänien oder Estland. Wir beschäftigten uns dabei auch mit der Frage, wer eigentlich Interesse daran hat, Falschmeldungen zu verbreiten, welche Strategien sich hier erkennen lassen und welche Lösungsansätze es gibt.
Neben dem gegenwärtig besonders präsenten Beispiel der Desinformationskampagne, die – auch aber nicht nur – im russischen Staatsfernsehen gegen die Ukraine verfolgt wird, wurden auf der Konferenz weitere Diskurse untersucht, in denen Desinformation eine gravierende Rolle spielt.
So stellt sich derzeit beispielsweise auch die Corona-Pandemie als ein Thema dar, über das besonders häufig falsche Informationen verbreitet werden. Weitere Narrative, die in Osteuropa verbreitet werden, sind die angebliche Gefährdung traditioneller Werte durch Migration, die Bedrohung der Autonomie durch die Europäische Union oder das Scheitern liberaler Demokratien bei der Bewältigung von Krisen. Diese werden sowohl von externen Quellen als auch von nationalen Akteuren kommuniziert. Neben staatlich getragenen Desinformationskampagnen werden beispielsweise Medienkanäle von Oligarchen und deren Interessen gesteuert, während Parteien in Kettenmails mit Unwahrheiten für ihre Anliegen werben. Auch Möglichkeiten und Wege, Desinformation zu bekämpfen, wurden im Rahmen der Konferenz besprochen.
Die konkrete Gefahr, die von diesen Desinformationskampagnen ausgeht, manifestiert sich nicht zuletzt derzeit an den Grenzen der Ukraine. Einen Einblick in Hintergründe und Kontexte bieten acht Interviews mit Expert:innen zum Thema, die während der Tagung im vergangenen September aufgenommen wurden.
Sie können die Interviews auf dem YouTube-Kanal der Evangelischen Akademie Tutzing #EATutzing abrufen.
(Hinweis: Alle Interviews sind in englischer Sprache.)
Beispiel Ukraine, Angelina Kariakina: “The general narrative is the following: You live in a failed state, the state is being manipulated and being governed from the outside by the Western, greedy countries.”
Desinformation und Propaganda hätten sich in der Ukraine zu einem regelrechten Krieg entwickelt, so Angelina Kariakina, Mitbegründerin des Public Interest Journalism Lab. Außerdem sei das Land zur Zielscheibe für externe Aggressionen seitens Russland geworden, wobei sich die russischen Kampagnen über die Zeit verändert hätten: Nun werde vorwiegend auf Themen eingegangen, die den Alltag der Einwohner prägten und mit denen sich die Ukraine als ein gescheiterter, nicht autonomer Staat darstellen lasse. Um gegen diese Narrative vorzugehen sei das Vertrauen in lokale Medien wichtig, die nicht von Oligarchen koordiniert würden. Ebenso müssten Informationen von Instanzen weitergegeben werden, denen bereits gesellschaftliches Vertrauen zukomme, darunter NGOs, die Wissenschaft, aber auch die Kirche.
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Beispiel Belarus, Veronica Laputska: “There are a few very disturbing narratives. One of them is that Belarussian neighbours, so Lithuania and Poland, Latvia, Estonia, Ukraine and the Czech Republic, are orchestrating a revolution, that they are paying people to come out to protest.”
Die belarussische Regierung verbreite aktiv Desinformation und übe Druck auf unabhängige Medien aus, meint Veronica Laputska, Mitbegründerin des Eurasian States in Transition Center. Ein Narrativ der Regierung sei beispielsweise die Koordination und Inszenierung der Proteste der vergangenen Jahre durch externe Akteure wie Lettland, Estland oder Ungarn. Auf Basis dieser Behauptungen würden die Unterstützer und Unterstützerinnen dieser Proteste immer wieder in den staatlich geführten Medien angegriffen, wobei sich die Anfeindungen seit August letzten Jahres fortlaufend radikalisierten. Laputska ruft dazu auf, unabhängigen Journalismus aktiv zu unterstützen und sieht gerade in Sozialen Medien die Chance, über Desinformation aufzuklären.
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Beispiel Litauen, Dalia Bankauskaité: “Challenges should be responded in a hybrid way, hybrid journalism if I may say, when there’s not only investigation, not only debunking, but also to some extent educating, that is giving the contextual understanding for the reader what’s really happening.”
Worauf zielt Desinformation ab und welche Narrative sind besonders verbreitet? Am Beispiel von Litauen erläutert Dalia Bankauskaité, Lektorin an der Vilnius Universität, dass Desinformation häufig darauf abzielt, der Gesellschaft Schaden zuzufügen: Anstatt konstruktiver Kritik und konkreten Lösungsvorschlägen lasse sich erkennen, dass gezielt Misstrauen gesät werde, ohne den Dialog miteinander zu suchen. Die Narrative richteten sich nach der aktuellen Situation, aktuell würden aber die Corona-Pandemie, Migration und die Europäische Union besonders häufig in Desinformationskampagnen aufgegriffen. Wie kann gegen die Verbreitung von Fehlinformationen vorgegangen werden? Bankauskaité sieht unter anderem in der neuen Generation viel Potenzial, diese brauche jedoch eine starke Identität, die durch Bildung gefördert werden müsse.
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Beispiel Rumänien, Oana Popescu-Zamfi: “Some of the main narratives are that we need to take our country back, the narrative that says that Romania is only taking orders from Washington and Brussels and our politicians are there just to serve the interests of foreign agents.”
Desinformation sei kein neuartiges Phänomen, so Oana Popescu-Zamfir, Direktorin des Global Focus Center in Bukarest. Fehlleitende Informationen seien bereits vor der Existenz von Bots und Internet-Trollen in die Welt gesetzt worden, beispielsweise um die Interessen von Politikern und Politikerinnen oder Interessengruppen zu stützen. Speziell in Rumänien stellten außerdem die historischen Spannungen zu Russland sowie das geringe Vertrauen in die nationale Politik und das demokratische System als solches eine zusätzliche Herausforderung dar. Bis heute habe die Regierung kein Interesse daran, konsequent gegen Desinformation vorzugehen – es werde stets über die Problematik diskutiert, aber nicht aktiv gehandelt, merkt Popescu-Zamfir an. Hier brauche es unter anderem mehr Druck seitens der Zivilgesellschaft auf die Politik.
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Beispiel Aserbaidschan und Armenien, David Shakhnazaryan: “What’s Azerbaijan doing in their state policy? On the official level, on the highest level, they’re announcing that all Armenians are on Azerbaijani territory. You know, it’s against history, it’s against logic but it is propaganda and I see there’s a lot of bias against this, in Russia, first of all, some politicians in Europe.”
Über die Staatspolitik Aserbaidschans, die sich gezielt gegen Armenien richtet, spricht David Shakhnazarya, Leiter der armenischen nationalen Sicherheitsdienste. Doch er appelliert auch an die Zivilgesellschaft: Diese solle keine Doppelmoral verfolgen, sonst drohe zivilgesellschaftliche Organisationen der Respektverlust der Bevölkerung.
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Beispiel Estland, Dimitri Teperik: “If we increase our trust within different groups, trust towards media and trust in governmental institutions, that’s something that immunizes us against the Kremlin propaganda. And for that, of course, we need very transparent and effective communication.”
In Estland habe es in letzter Zeit nur selten Fälle von Desinformation gegeben, bemerkt Dimitri Teperik, Leiter des International Centre for Defence and Security und Entwickler des Programms “Resilient Ukraine”. Eine Ausnahme bildeten Falschinformationen bezüglich der Covid19-Pandemie. Auch die Verbreitung von Narrativen der Kremlin, die besagen, dass der Westen über die estnische Politik bestimme, habe abgenommen. Teperik führt grundlegendes Vertrauen in Medien sowie demokratische Prozesse und Institutionen als wichtiges Mittel gegen Desinformation an. Auch transparente und effektive Kommunikation mit der Bevölkerung und eine in das Krisenmanagement involvierte Zivilgesellschaft seien von Vorteil.
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Beispiel Tschechien, Jonás Syrovátka: “I would argue that Russian influence operations are playing an important part in the area of disinformation, but I would argue that we have to put way more emphasis on the political, social and media context which allows disinformation to flourish in the Czech environment.”
In der Tschechischen Republik bedienten sich zahlreiche Akteure am Mittel der Desinformation, allen voran aber Politiker und Politikerinnen mithilfe von Kettenmails, in denen sie eben nicht nur ihre politischen Anliegen verbreiteten, so Jonás Syrovátka, Programm-Manager am Prague Security Studies Institute. Doch von Vorteil sei, dass bereits eine ausgedehnte Debatte zum Thema existiere, sodass zivilgesellschaftliche Organisationen bereits facettenreiche Lösungsansätze entwickeln konnten und nun auch Unternehmen auf die Problematik aufmerksam geworden seien. In Zukunft fordert er, dürfe Desinformation nicht gefürchtet und als unüberwindbare Hürde betrachten werden.
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Beispiel Bulgarien, Rumena Filipova: “The general aim of foreign authoritarian influence operations is to really sew distrust in liberal democracy and also undermine faith in the European integration process in the countries of south-east Europe.”
In Bulgarien würden zahlreiche Nachrichtenquellen von Oligarchen gesteuert und beeinflusst, beklagt Rumena Filipova, Mitbegründerin und Vorsitzende des Institute for Global Analytics. Diese oligarchischen Netzwerke bildeten einen Anknüpfpunkt für externe Desinformationskampagnen, die beispielsweise darauf abzielten, das Vertrauen in die liberale Demokratie zu schwächen und stattdessen autoritäre Regimes als die besseren Krisenmanager zu profilieren. Dagegen versuche die Zivilgesellschaft vorzugehen, indem sie unter anderem die Medienkompetenzen von Kindern förderten oder sich für die Pressefreiheit einsetzten. Auf politischer Ebene vermisse sie hingegen Initiativen zur Prävention von Desinformation.
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Alix Michell / Alessia Neuner
Bild: Videointerviews aus der Tagung “Desinformation: Krieg im Innern” September 2021 (eat archiv)