Von Spielen und Spielverderbern
Es liegt in der Natur des Menschen, dass er alles sehen, hören, riechen, schmecken und anfassen will. Nun attackiert ein Virus unseren wundesten Punkt. Was passiert in einer Krise wie dieser mit unserer Lust auf alles Sinnliche? Ein Essay.*
„Kill your Darlings!“ Das klingt verwegen. Nicht: „Kiss your Darlings“? Geht’s da ans Eingemachte? So wirklich rebellisch, radikal, brutal, verquer, dass eine Institution, die immerhin sehr traditionsbewusst, ja, sensibel ist, empörte Buhrufe – Skandal! – riskiert? Die Kunstform Oper darf das: alle Exzesse des Lebens, die Bestie und den Engel Mensch aufführen. Aber hat sie’s wirklich auch im Kreuz? Denn das ist ja Pop, Avantgarde, Ketzerei, No-Go. Wir erinnern uns unwillkürlich. Pures Entsetzen, selbst bei den hartgesottensten Fans, als 1967 in Monterey erstmals elektrische Gitarren live on stage zerstört wurden. Oder Marcos Baghdatis, der 2012 bei den Australian Open seine Tennisschläger am Spielfeldrand jähzornig zerhackte, vier Stück, in 40 Sekunden. War das nicht pure, aber auch faszinierende Gewalt? So, als hätte James Dean den silbernen Porsche 550 Spyder bei seiner Todesfahrt 1955 im Crash unabsichtlich ikonisch designt? Kill your Darlings! Aber doch nicht im Ernst? Mehr symbolisch-moderat? So als Frühjahrsputz, mal durchlüften. Oder doch Tabula rasa? Auf den Kehricht alles Etablierte, Liebgewonnene, die ganze sedierte, satte Kunstbehäbigkeit! Da zuckt’s schon, das gemütliche Fleisch. Könnte vielleicht nochmals rasend werden, wie damals, als Eric Burdon & The Animals mit When I Was Young das Tier in uns lockten. Wir kennen uns ja: Du musst dein Leben ändern, die Cholesterine, die Fettleber, die Raucherlunge, so der Arzt. Nein, du musst dein Ändern leben, so die Kids. Hau weg den SUV, Schluss mit Fliegen, basta Kreuzfahrt! Wir schämen uns, ganz arg, bedauern, machen Therapie. Aber die Sachzwänge, das schöne Leben! Was kann man da einzeln schon machen? Und so kontern wir „Fridays for Future“ mit „Fridays for Hubraum“. 1881 schrieb Friedrich Nietzsche in Also sprach Zarathustra: „Oh meine Brüder, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fällt, das soll man auch noch stossen! Das Alles von Heute – das fällt, das verfällt: wer wollte es halten! Aber ich – ich will es noch stossen! Kennt ihr die Wollust, die Steine in steile Tiefen rollt?“ Die Darlings killen? So richtig, nicht nur Kabarett oder im übertragenen Sinn: total, industriell, politisch, kulturell, bürgerlich, säkular, klerikal, also den ganzen affirmativen Saustall: Nockherberg, Passionsspiele, Heimatsound, Oktoberfest. Ois wegramma!
WILLST DU FRIEDEN, BEREITE DICH AUF KRIEG VOR
Es hat etwas Alttestamentliches, was da mit Verve gefordert wird. Wie in den urbiblischen Thrillern: Abraham soll seinen Sohn Isaak opfern; da fällt ihm gerade noch ein Engel in den Gott gehorsamen Arm mit dem Schlachtmesser. Wie in den Evangelien: Gottvater tut nichts, als sein Sohn gekreuzigt wird. Am Ostermorgen umarmt dafür Maria Magdalena ihren auferstandenen Liebling, doch Jesus von Nazaret wehrt sich mit einem Nolimetangere – berühr mich nicht! Trotzen! Bis heute werden allerhand Darlings im Namen eines Gottes gekillt. Der Anthropologe René Girard hat sein ganzes Leben lang versucht, diesen bigotten Gehorsam zu töten, die heilige Mimesis der Gewalt zu enträtseln. Am 9. November 1967 wurde an der Universität Hamburg von zwei damaligen Studenten ein Transparent enthüllt. Darauf stand: „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“. Neues brauchte und braucht Luft, Raum, Mut – auch den, Tabus zu brechen. Im Motto „Kill your Darlings“ stand die Literatur Pate. Ursprünglich geht es wohl auf den britischen Schriftsteller Arthur Quiller-Couch in On the Art of Writing (1916) zurück: „Whenever you feel an impulse to perpetrate a piece of exceptionally fine writing, obey it – whole heartedly – and delete it before sending your manuscript to press. Murder your darlings.“ Ähnlich der US-amerikanische Romancier William Faulkner: „In writing, you must kill all your darlings“, sowie Stephen King in On Writing: A Memoir of the Craft: „Kill your darlings, kill your darlings, even when it breaks your ego centric little scribbler’s heart, kill your darlings.“ Nur wer nicht zögert, seine liebsten Routinen, vergnüglichsten Ideen und hübschesten Forme(l)n zu schlachten, dem kommt das Noch-nie-da-Gewesene entgegen. Kränk dich selber narzisstisch! Klingt paradox wie si vis pacem, parabellum – willst du Frieden, bereite dich auf Krieg vor. Das Neue hingegen ist meist ein uralter Wunsch, ein verspielter Tagtraum. Theodor W. Adorno schrieb 1970 in seiner Ästhetischen Theorie: „Das Verhältnis zum Neuen hat sein Modell an dem Kind, das auf dem Klavier nach einem noch nie gehörten, unberührten Akkord tastet. Aber es gab den Akkord immer schon, die Möglichkeiten der Kombination sind beschränkt, eigentlich steckt alles schon in der Klaviatur. Das Neue ist die Sehnsucht nach dem Neuen, kaum es selbst, daran krankt alles Neue. Was als Utopie sich fühlt, bleibt ein Negatives gegen das Bestehende, und diesem hörig.“
DAS SPIEL ALS GEGENWELT
Nur, wie reagieren? Mit Spieltrieb, Nervenkitzel, Risiko, heiligem Ernst, Leidenschaft, Kick? Spielen ist bis heute, trotz vieler Entstellungen, eine Gegenwelt zu Gewalt und Profit. Das Spiel nährt das Phantasma von feinsensorischer Leibesertüchtigung, psychomotorischer wie sozialer Kompetenz. Als Schulung von Fairplay, durch Gewinnen und Verlieren zivilisiert es Aggressionen. Wie Pop, Mode und Musik ist das Spiel ein kosmopolitischer Parameter für offene Gesellschaften, eine natürliche, evolutionäre, kulturelle und religiöse Urkraft, wie etwa der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga 1938 in Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel aufzeigt – sie nähren, analog wie digital, die ewige Idee vom Weltfrieden. Für den Soziologen Pierre Bourdieu und den Ethnologen Clifford Geertz ist Spielen der Produzent sozialen Sinns schlechthin. Mit der modernen Spieltheorie skizziert das Motto „Kill your Darlings“ ein anderes Bild vom Menschen, nicht Soldat oder Konsument zu sein, sondern Autor, Poet, Subjekt seines Lebens. Es bleibt also eingehegt in Friedrich Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen von 1794: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Doch nun ist alles anders. Corona – ein Wort genügt als Spielverderber im dramatischsten Sinne. Wähnten wir uns nicht schon jubilatorisch auf dem Olymp der Digitalisierung? Das Virus attackiert unseren reichsten, unseren wundesten Punkt: die Berührungslust. Unser fünfsinniges, leibgeistseelisches Sensorium will alles anschauen, anfassen, riechen, schmecken, hören. Wird uns ein Objekt des Begehrens verwehrt, ernährt das „Berühren verboten!“, „Don’t touch!“, „Si prega di non toccare!“, „Défense de toucher!“ nur mehr den Reiz, das Tabu zu brechen. Es ist der Organismus, unser auf Sinnliches unersättlich heißer, geiler Körper, dessen unheilbar analoges Repertoire uns zum Kontakt mit jedweden Darlings verführt. Urplötzlich ist das soziale Leben ein einziges russisches Roulette. Corona killt unsere Darlings, unsere Darlings killen uns. Das ist der Plot, Punktum. So beschreibt es beispielsweise der Medienwissenschaftler Neil Postman 1985 in seinem Buch Wir amüsieren uns zu Tode. Unser HautIch, so der Psychoanalytiker Didier Anzieu, ist süchtig nach dem mimetischen Rausch. Doch die Politik muss uns seinen Dealer, den Markt, verbieten. Das commercium admirabile, die „wundersame Verwandlung“ respektive „Vermählung“, hat alles zur Konsumpraline verzaubert, Gott human, die Ware spirituell gemacht: Corona bläst die Posaune zum Entzug. Abgesagt – verschoben – fällt aus.
WENN DEN MENSCHEN DER MENSCH FEHLT
Was mich nährt, mich auch zerstört. Augustinus’ Formel erwischt uns im Doublebind. Wir Dinosaurier des Konsums fressen alles für den pursuit of happiness. Rumpelt der Kapitalismus als Religion, wie es Walter Benjamin bezeichnete, seinem Karfreitag entgegen? Oder zwingt uns Corona weltweit zum Abschied von der antropologia gloria, vom tollen Menschen? Hightech, der Zauberstab des Anthropozäns, predigt noch immer die Superlative: Profit, Potenz, Performance. Die Darlings killen, was uns unvollkommen, verletzlich, lachend, weinend, schöpferisch, böse und sozial, dennoch letztendlich menschlich macht. Menschlich macht auf der Suche nach Orten, wo wir nicht nur müssen, sondern dürfen. Doch überall fehlen uns Menschen die Menschen. Ein Phantasma der Leere, wund, plärrend, lechzend nach Fülle.
In der Fondation Beyeler in Riehen zu Basel war jüngst die Ausstellung Edward Hopper – Ein neuer Blick auf Landschaft zu sehen. Hoppers Bilder frieren die apathischen Menschen in erstarrte Unruhe ein. Seine Nighthawks wären jetzt, 80 Jahre später, das ideale Abbild für all die toten Städte da draußen. Wie viel diffuse Bedrohung durch die brutale Differenz (x infiziert, y nicht infiziert) verkraften wir? „Zusammenhalten!“, sagen nicht wenige. Sie sind ein Wunder, diese Solidarkräfte. Doch ist Corona zu viel? Ist es ein Mordstrumm Natur, malum naturale, oder ein Mordstrumm Mensch, malum morale? Wir müssen umkehren. Ja, aber wie – und wohin? Und nach Corona? Ein Reset? Alles nachholen? Das Ende der Illusionen (2019) von Andreas Reckwitz lesen? Samuel Becketts Diktum aus Worstward ho. Aufs Schlimmste zu (1986) genügt völlig: „Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“ Augenscheinlich kollidieren momentan Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung und Ernst Blochs Prinzip Hoffnung. Das „Menschenmögliche“ tun und mit Dietrich Bonhoeffer Von guten Mächten wunderbar geborgen beten? Oder, wenn nur Ungewissheit gewiss ist, Friedrich Hölderlin glauben: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“? Und sich mit Bertolt Brecht vergewissern: „Wenn es einen Gedanken gibt / Den du nicht kennst / Denke den Gedanken / kostet er Geld / verlangt er dein Haus; / Denke ihn! Denke ihn! / Du darfst es!“
YOU’LL NEVER WALK ALONE
Es gibt kein Zurück zum Garten Eden, zum Berg der Wahrheit Monte Verità, zur Wiese Woodstock des Milchbauern Max Yusgar. Der Mensch werde nach Corona nicht mehr derselbe sein, wettert der Philosoph Slavoj Žižek und fordert eine weltinnenpolitische Koordination. Doch wir erleben die eine Welt als ausweglose Immanenz, als blue world, die alles Trennende transzendiert. „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“, sagte schon der Revolutionär Che Guevara. Eine Fußballhymne singt sie uns vor: „You’ll never walk alone“. Kann man so etwas nach Corona noch singen? Ist das emotionale Kuscheln der Hymne dann überholt oder entwickelt sie erst jetzt eine neue, subversive Kraft? Das Spiel macht, einer psychischen Impfung gleich, immun gegen Krieg. „Competition“ kommt aus dem Lateinischen „cumpetere“ und bedeutet so viel wie „etwas gemeinsam bestreben“. Der Wettbewerb vereint Konkurrenz und Zusammenhalt. Sich anerkennen, das ist das Minimum auf dem Spielfeld, denn man kann nur miteinander gegeneinander spielen.
Wenn es ein absolut schlagendes Gleichnis für „Kill your Darlings“ gibt, dann das vom Monterey Pop Festival 1967. The Jimi Hendrix Experience und The Who streiten um die Auftrittsreihenfolge. Beide Leadgitarristen werden ihre Gitarre zertrümmern. Der Münzwurf entscheidet: zuerst The Who. Pete Townshend zerstört seine Gibson SG. Jimi Hendrix rammelt mit seiner Fender Stratocaster den Marshall-Verstärker. Schließlich fackelt er die feelsaitige hölzerne Sirene ab. Entsetzen macht sich breit. Nur Nico, Sängerin von The Velvet Underground, küsst ihn. 1969 komponiert Peter Maxwell Davies das Monodram Eight Songs for a Mad King. Am Ende zertrümmert George III die Geige eines Musikers – so steht es in der Partitur, und so geschieht es bei jeder Aufführung neu. Werktreue! Eine Geige ist am Ende zerstört, noch immer, jedes Mal bis heute und für immer. Der Mythos Topform ist tot. Es lebe das Ideal des Kaputten. Hören wir Walter Benjamin: „Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Haß. Der destruktive Charakter ist jung und heiter. Denn Zerstören verjüngt. […] Der destruktive Charakter ist immer frisch bei der Arbeit. […] Dem destruktiven Charakter schwebt kein Bild vor. […] Der destruktive Charakter tut seine Arbeit, er vermeidet nur schöpferische. […] Der destruktive Charakter ist ein Signal. […] Der destruktive Charakter ist gar nicht daran interessiert, verstanden zu werden. […] Der destruktive Charakter ist der Feind des Etui-Menschen. […] Der destruktive Charakter verwischt sogar die Spuren der Zerstörung. […] Der destruktive Charakter sieht nichts Dauerndes […] überall Wege. […] Das Bestehende legt er in Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um der Wege willen.“
Jochen Wagner, Jahrgang 1957, studierte Evangelische Theologie und Philosophie, war Vikar in Garmisch-Grainau, Pfarrer in Bayreuth und wissenschaftlicher Assistent für Systematische Theologie und Philosophie an der Augus tana Hochschule Neuendettelsau. Im Jahr 2000 wurde er mit einer Arbeit über Walter Benjamin promoviert. Seit 1994 ist er Studienleiter des gesellschaftswissenschaftlichen Referats an der Evangelischen Akademie Tutzing, mit einer Passion für Fußball, Gitarren und italienische Motorräder.
KILL YOUR DARLINGS – so lautete das Motto der Spielzeit 2019/20 an der Bayerischen Staatsoper, die durch das Coronavirus vorzeitig zu Ende ging. Der griffige Imperativ stammt ursprünglich aus der Praxis des literarischen Schreibens. Auf das Leben übertragen bezeichnet er die Notwendigkeit, sich von lieb gewonnenen Gewohnheiten, Überzeugungen oder Lebensweisen zu trennen, weil sie einem selbst oder anderen schaden können. Diese Janusköpfigkeit unserer „Darlings“ macht das Loslassen umso schwerer. Die Premieren dieser Spielzeit haben sich auf unterschiedliche Weise mit den Aspekten des komplexen Prozesses beschäftigt.
*HINWEIS: Vorliegender Artikel erschien im Magazin „Max Joseph“ der Bayerischen Staatsoper No. 4/2020. Zum Link
Bild: Jochen Wagner (Foto: dgr/eat archiv)