„WO DIE BÜRGERSTEIGE MIT ROSENSTRÄUCHERN GEFEGT WURDEN UND ES MEHR BUCHHANDLUNGEN GAB ALS BÄCKEREIEN.“
Georg Heinzen
Czernowitz, das ist ein Name, der lockt und klingt. Ein Mythos, dessen Faszination bis in die Gegenwart reicht. Und eine Stadt, die einst als Schmelztiegel der Kulturen galt, gelegen im entferntesten der österreichisch-ungarischen Kronländer, der Bukowina.
Hatte sich im Gemisch der Sprachen hier bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine deutschsprachige Literatur etabliert, gelangte diese in der Zwischenkriegszeit zu ihrer Blüte. Kaum eine andere Stadt vergleichbarer Größe hat so viele Denker und Dichter hervorgebracht wie das „Jerusalem am Pruth“: Karl Emil Franzos, Rose Ausländer und
Georg Drozdowski sind nur einige der auch heute noch bekannten Namen, die der deutschsprachig-(jüdischen) Dichtung der Bukowina zu ihrem Platz in der europäischen Literaturgeschichte verhalfen und das einmalige geistige Klima der Stadt begründeten.
Ein Mikrokosmos, der mit Einbruch des Zweiten Weltkriegs nahezu vollständig zerstört wurde. Emigration, Ghetto, Deportationen und Arbeitslager vernichteten das literarische und intellektuelle Leben und führten auch die Dichter der zweiten Generation – unter anderen Immanuel Weissglas, Alfred Gong, Paul Celan und Selma Meerbaum-Eisinger – in Tod und Exil. Das Czernowitz von damals existierte nicht mehr. Der Mythos jedoch lebt bis heute fort. Überliefert in eindrücklichen und wunderschönen Geschichten und Gedichten der Poeten – geschrieben zwischen Paris, New York, Jerusalem und Düsseldorf.
Dabei weisen viele dieser Werke eine Besonderheit auf: Die brüchigen, ja oft nomadischen Biographien der Literaten gehen darin eine besondere Verbindung mit ihrer verlorenen Heimat ein. Sie spiegeln regionale Identitäten, die mit spezifi schen Zuschreibungen verbunden sind und oftmals die Heimat als Projektionsfl äche oder Topographie ihrer Werke nutzen. Und trotz dieses sehr speziellen Fixpunktes erlangten viele der Dichter Weltruhm.
Wie wird Erinnerung in der Literatur festgeschrieben – damals und heute? Welchen Anteil haben die Gedichte und Geschichten an der Entstehung des Mythos Czernowitz? Wie wirken sich literarische Mythen auf aktuelle kulturelle Praktiken in der Bukowina bis heute aus?
An der Schwelle zum neuen Jahr spüren wir diesen Fragen nach. Wir reisen in die wechselvolle Geschichte der Bukowina und tauchen ein in die große jüdische Vergangenheit von Czernowitz. In Vorträgen, Musik und Lesungen entdecken wir Orte, Mythen und Dichter einer besonderen Grenzregion: Faszination, die bis in die Gegenwart reicht und wirkt.
Judith Stumptner, Studienleiterin, Evangelische Akademie Tutzing