DER OSTEN IM WESTEN & DIE UNGLAUBLICHE VIELFALT EINER BERAUSCHENDEN STADT
Mit dem technisch-wirtschaftlichen Wandel der Industriellen Revolution gingen im Europa des 19. Jahrhunderts auch tiefgreifende soziale Veränderungen einher. Viele Menschen versuchten, Armut und Not durch Auswanderung zu entkommen und machten sich auf den Weg nach Amerika.
Die Vereinigten Staaten richteten 1892 auf Ellis Island eine zentrale Empfangsstation ein, um die Massen der Immigranten besser bewältigen zu können. Allein im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wanderten 9,5 Mio. Menschen in die USA ein. Neben Italienern stellten vor allem Juden (1,1 Mio.), Polen (950.000) und Deutsche (750.000) die größten Gruppen.
Die Gesamtzahl der zwischen 1881 und 1910 eingewanderten Juden betrug 1,5 Millionen, zwei Drittel von ihnen kamen aus dem zaristischen Russland, viele auf der Flucht vor Pogromen und Antisemitismus. Die anderen jüdischen Immigranten stammten aus verschiedenen, meist osteuropäischen Ländern. Wie auch einige Hunderttausend Ukrainer, die sich in diesen Jahrzehnten auf den Weg nach Westen machten, verließen sie jedoch vornehmlich aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat.
Viele der Einwanderer ließen sich in New York City nieder. Die große Mehrheit der jüdischen Immigranten fand eine erste ärmliche Bleibe in den entstehenden Mietskasernensiedlungen (Tenements) der Lower East Side. Hatten sie sich etwas Wohlstand erarbeitet, zogen sie oft nach Brooklyn, wo Juden heute 40% der weißen Bevölkerung stellen. Polnische und ukrainische Neuankömmlinge siedelten sich hingegen überproportional im nördlich an die Lower East Side angrenzenden East Village an, es entstand „Little Ukraine“. Und Brighton Beach am Atlantik wurde Heimat für viele jüdische russischsprachige Emigranten, die in den 70er und 80er Jahren die Sowjetunion verlassen durften. In manchen Straßen hört und liest man ausschließlich Russisch, weswegen die Bewohner von „Little Odessa“ im Allgemeinen für „Russen“ gehalten werden.
Wir folgen auf unseren Streifzügen durch die Stadt den Spuren der osteuropäischen, oft jüdischen Einwanderer. Dabei hören wir Geschichten aus früheren Zeiten, treffen Nachfahren der damaligen Einwanderer und erleben die Gegenwart des Ostens im Westen.
Gleichzeitig lassen wir uns faszinieren von der unglaublichen Vielfalt einer Stadt, die über die Jahrzehnte Zufluchtsort unzähliger Menschen unterschiedlichster Herkunft wurde. Deren Einflüsse erleben wir dann auch an den letzten beiden Tagen unserer Reise, wenn wir bei einem Spaziergang durch die multikulturelle Bronx überraschend auf Edgar Allan Poe und Heinrich Heine stoßen und nach der Erkundung des afroamerikanisch geprägten Harlem einen mitreißenden Gospel-Gottesdienst besuchen. Ich freue mich, Sie auf diese Reise einladen zu dürfen!
Judith Stumptner
Studienleiterin, Evangelische Akademie Tutzing