WIR SIND WIEDER WER!
– Aber wer denn eigentlich? Der Weltmeistertitel von 1954 war sicher ein im Nachkriegsdeutschland nicht erwartbarer sportlicher Triumph und hätte als Wunder von Bern ja schon genügt, um Euphorie auszulösen. Aber bereits zeitgenössisch und immer wieder in der Retrospektive wurde weit mehr in den 4. Juli 1954, quasi als zweites Gründungsdatum der Bundesrepublik, hineininterpretiert. War nicht auch der Wiederaufbau jetzt geschafft? Der Konjunkturaufschwung nahm so richtig Fahrt auf, die Bundesrepublik hatte die Westintegration mustergültig abgeschlossen, sie konnte sich als fast vollwertige Nation fühlen und den Nationalsozialismus als Irrweg einordnen, für den man durch eigene Verluste ausreichend gebüßt habe. Vieles sprach dafür, aber die Einseitigkeit dieser Perspektiven macht gleichzeitig schaudern.
Neun Jahre nach Kriegsende wurden eben nicht nur Erfolgsgeschichten geschrieben, sondern auch Geschichten von unwiederbringlichen Verlusten, unfassbarer Schuld und nie mehr gelungenem Anknüpfen an das Vorkriegsleben. Familien waren dezimiert und zerrissen worden, Kindheiten zerstört, Menschen unheilbar zu Tätern oder Opfern geworden. Konnte darüber ein Fußballsieg, ein „Rock around the clock“ oder ein Volkswagen hinwegtäuschen? Die paradoxe Antwort lautet: „jein“. Denn tatsächlich flankierten die Wohlstandsversprechen der Fünfzigerjahre die Übereinkunft der Mehrheitsgesellschaft, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wurde verschoben, erfolgte manchmal erst in den Sechzigerjahren, noch später oder nie. Darunter litten die Betroffenen, im verbreiteten Lebensgefühl der Fünfzigerjahre ging das aber unter.
Überall schien es aufwärts zu gehen, Klassenschranken verloren an Bedeutung und neue Freiheiten lockten. Radio, Kino, bald sogar Fernsehen sorgten in bis dahin unbekannter Weise für Massenunterhaltung, und aus den USA kamen ganz neue Töne. Elvis Presley eroberte Deutschland nicht als amerikanischer Soldat, sondern als der King of Rock 'n' Roll. Ambivalenzen indes auch in der Alltagskultur: Gelsenkirchner Barock, Hausfrauenideal und „Pack die Badehose ein“ hier; Egon Eiermann, Halbstarke und „Hotten“ dort.
Lassen Sie uns zum Jahreswechsel hineinhören, hineinsehen und hineinschmecken in dieses spannende Jahrzehnt – herzliche Einladung zur Silvestertagung im Schloss Tutzing!
Dr. Ulrike Haerendel, Studienleiterin, Evangelische Akademie Tutzing