Seit den 2000er Jahren wird die Realität der unterschiedlichen Formen von Gewalt und Grenzverletzungen, die Kinder und Jugendliche in Erziehungseinrichtungen und in der Kinder- und Jugendarbeit in den beiden deutschen Nachkriegsstaaten erfahren haben, vermehrt öffentlich wahrgenommen. Um das Unrecht dieser Gewalt herauszuarbeiten, die vielfältigen Verletzungen der Überlebenden zu benennen und anzuerkennen, die staatlichen Institutionen und freien Träger dafür in die Verantwortung zu nehmen und zumindest ansatzweise durch Aufarbeitung und Wiedergutmachung Gerechtigkeit herzustellen, wurden unterschiedliche gesellschaftliche Verfahren etabliert.
Die Tagung soll unter Einbeziehung aller beteiligten Akteur:innen eine für Bayern längst überfällige Bilanz über den Stand dieser Verfahren ziehen, aus der sich dann Strategien sowohl für die weitere Praxis der Aufarbeitung wie auch für den Umgang mit den Befunden der Aufarbeitung entwickeln lassen. Dabei geht es um Folgendes:
Bislang werden die Prozesse der Anerkennung, Aufarbeitung und Wiedergutmachung eher durch die Rahmenbedingungen bestimmt, welche die aufarbeitenden Einrichtungen dafür setzen. Die Betroffenen nehmen in diesen Verfahren die Rolle der Antragsstellenden ein, und sind meist nur marginal beteiligt. Zugleich war und ist es auf die Initiative der Überlebenden zurückzuführen, dass diese Aufarbeitungsprozesse überhaupt in Gang gesetzt wurden.
Bislang lässt sich für Bayern weder die Gesamtzahl, der von institutioneller Gewalt Betroffenen noch die Zahl dafür verantwortlichen Träger und Einrichtungen konkret bestimmen. Die Aufarbeitung orientiert sich an den Verfahren, die sich bislang bundesweit entwickelten, ausgehend von einer Petition der ehemaligen Heimkinder (2006) an den Deutschen Bundestag und den Empfehlungen des als Folge vom Parlament eingesetzten „Runden Tisch für Heimerziehung“ (2009-2010):
- Der „Fonds Heimerziehung West/Ost“ (2012-2018), organisiert über die Sozialministerien der Bundesländer, zielte auf die Einrichtungen der Heimerziehung bzw. der stationären Kinder- und Jugendhilfe, in denen etwa 1,3 Mio. Kinder und Jugendliche untergebracht waren.
- Die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ (2017-2022), ebenso organisiert über die Sozialministerien, bezog sich auf die Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie (BRD und DDR), in denen nach bisherigem Stand etwa 250.000 Kinder und Jugendliche untergebracht waren.
- Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (organisatorisch angesiedelt bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs UBSKM)(ab2015) erarbeitet Empfehlungen für Standards der institutionellen Aufarbeitung (bspw. 2019), u.a. für die Aufarbeitungsverfahren der Katholischen und Evangelischen Kirche. Zur quantitativen Dimension gibt es bislang keine belastbaren Angaben.
- Daneben kam es sehr vereinzelt zu regionalen Verfahren, bezogen auf einzelne Träger und Einrichtungen. So begannen im Jahr 2021 die Stadt München wie auch der Paritätische Landesverband Bayern mit Aufarbeitungsverfahren. Auslöser waren Hinweise ehemaliger Heimkinder auf den Bestand eines trägerübergreifenden Missbrauchsnetzwerkes.
- Im Schatten dieser Verfahren blieben bislang Einrichtungen wie Säuglings- oder Kindererholungsheime, Anstalts- und Förderschulen, wie auch Unrechtskomplexe (bspw. systematischer Medikamentenmissbrauch), die in anderen Bundesländern bereits staatlicherseits untersucht werden.
So werden die Forderungen nach einer gesetzlichen Lösung verstärkt diskutiert, welche die Aufarbeitung von der Träger-Ebene auf eine gesamtgesellschaftliche Ebene hebt. Vorbild dafür ist bspw. das Schweizer Bundesgesetz für die Aufarbeitung (2016). Nach dem Vorbild der Gedenkstätte in Torgau könnte zudem ein Ort der „Anerkennung und Erinnerung“ für die Betroffenen geschaffen werden, der eine unabhängige Anlaufstelle und einen gesellschaftlichen Dialog-Raum über Erfahrungen des Unrechts und dessen Aufarbeitung bereitstellt.
Zu dieser Tagung laden wir Betroffene, Expert:innen und am Thema Interessierte herzlich in die Evangelische Akademie Tutzing ein!
Pfr. Udo Hahn, Direktor, Evangelische Akademie Tutzing
Prof. Dr. Annette Eberle & Prof. Dr. Susanne Nothhafft, Katholische Stiftungshochschule (KSH)