„ICH IST EIN ANDERER" /„JE EST UN AUTRE"
Arthur Rimbaud
Happy birthday to you! So feiern wir, auf die Welt gekommen zu sein. Ungefragt, wann, wo, wie, warum. In einen Leib gesteckt und einen Namen gegeben – doppelt unfrei wie einmalig bestimmt. Alles purer Zufall. Biologisch, gesellschaftlich, religiös, scheint klar zu sein, wer wer wie ist. Schon das biblische Votum, „fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein", atmet Gewissheit.
Doch wer bin ich wirklich? Philosophisch gilt als wahr, wenn Zeichen und Ding adäquat sind. Doch was bezeichnet mich als authentisch? Repräsentieren unsere gewohnten Signifikanten, Körper und Name, von Natur wie Kultur uns zugemutete Gaben, claire et distincte eine Identität? Wie lässt sich mit allgemeinen Begriffen unser jeweils eigenes, nonkonformes, nichtidentisches Selbst kommunizieren?
Unser Zeitalter ist das erste, das nicht mehr genau weiß, was das ist: ein Mann, eine Frau. Weder körperliche Merkmale noch Psyche und angelerntes Verhalten geben darüber sichere Auskunft. Längst ist eine mannigfaltige Diversität weder von Natur, Kultur oder Gott abwehrbar. Alles kann anders, vieles sein – meine Kontingenz nährt den Wunsch, meine persönliche Emanzipation als politischen Prozess zu lesen.
Christina von Braun, die 1997 in Deutschland erstmals den Studiengang Gender Studies einführte, widmet dem Thema Filme und Bücher. Zuletzt: „Geschlecht. Eine persönliche und eine politische Geschichte" (2021). Dies tun auch andere Wissenschaftler:innen und Forscher, Künstlerinnen und Filmemacher. Sie reflektieren Frauenrollen und -bilder, kommen zu neuen weiblichen und männlichen Selbstbildern, begreifen die Verschränkung von Subjekt- und Sozialgeschichte.
In der geplanten Tagung geht es nicht um eine weitere identitätspolitische Diskussion, nicht um das Für und Wider des Gendersternchens, sondern um die Frage, wie diese historisch einmalige Situation zustande kam und was sie charakterisiert. Wann begann dieser Prozess, was waren die ausschlaggebenden Faktoren? Welchen Einfluss hatte das religiöse Denken? Wie schlug er sich in Justiz, Politik, Ökonomie, Gesellschaft und Kultur nieder? Und auch: Wie geht unsere Psyche damit um? Allmählich bildet sich ein Mosaik heraus: Dieses Bild zu entziffern ist eine Gemeinschaftsaufgabe, zu der wir alle Interessierten sehr herzlich in die Evangelische Akademie Tutzing am Starnberger See einladen.
Pfr. Dr. phil. Jochen Wagner
Evangelische Akademie Tutzing
Prof. Dr. Christina von Braun
Humboldt-Universität zu Berlin