"DA HABEN WIR UNS SO DURCHGESCHLAGEN..."
So wie die Zeitzeugin aus dem Ruhrgebiet beschreiben viele im Nachhinein die Zeiten des Übergangs. Mit der verlorenen Schlacht von Stalingrad Anfang 1943 setzte nicht nur eine psychische Ablösung vom Regime in der deutschen Bevölkerung ein. Unter den Bedingungen des Luftkriegs funktionierte die Diktatur nicht mehr in der gleichen Weise. Die Notwendigkeit der Selbsthilfe und die errungene Selbstständigkeit gerade vieler Frauen verschoben auch den Blick auf die Autoritäten des NS-Staates, deren Durchhalteparolen man immer weniger Glauben schenkte.
Aber der Krieg ging an den verschiedenen Fronten, die Deutschland in Europa eröffnet hatte, noch zwei Jahre weiter und forderte ungeheure Opfer. Die Aussicht auf die baldige Wiederherstellung einer wie immer gearteten Normalität rückte auch für die deutsche Bevölkerung in immer weitere Ferne. Für die unzähligen Zwangsarbeiter, die Häftlinge in den Konzentrationslagern, die wenigen Juden, die noch nicht deportiert worden waren, galt „Überleben!“ als tägliche Losung im Blick auf die ersehnte Befreiung.
Als „Displaced Persons“ erlebten sie die Nachkriegsjahre anders als die deutsche Mehrheitsbevölkerung. Von Politik und gar Vergangenheitsbewältigung wollten viele Deutsche nichts wissen und waren bereit, auch notorische „Nazis“ zu schonen. Viele ehemals Verfolgte und Emigrierte mussten dagegen um Anerkennung kämpfen und blieben in der jungen Demokratie Außenseiter.
Die Zeit zwischen Stalingrad und Währungsreform schreiben wir in dieser Tagung weniger als Politikgeschichte, denn als Sozial- und Erfahrungsgeschichte. Vieles ist selbst für die, die sie erlebt haben, 75 Jahre nach Kriegsende irritierend. Historikerinnen und Historiker helfen uns bei der Einordnung und berichten aus der Forschung. Wir geben auch Gelegenheit, sich miteinander auszutauschen. Dabei interessiert nicht nur das Selbsterlebte, sondern auch, was die Nachgeborenen in ihren Familien gehört haben und mit welchen Erzählungen sie groß geworden sind.
Wie hat uns diese Zeit geprägt? Das wollen wir zuletzt anhand des Fluchtgeschehens, das jetzt eine ganz andere Aktualität in Deutschland hat, reflektieren. Im Krisenmodus erleben wir uns auch heute. Zwar ist die Pandemie kein Weltkrieg, aber viele empfinden, dass danach nichts mehr so sein wird, wie es war, und wir uns, wie einst in der Stunde Null, neu erfinden müssen.
Wir laden Sie sehr herzlich zum Gedankenaustausch in die Evangelische Akademie Tutzing ein. Wir hoffen, dass die Entwicklung der Pandemie die Durchführung der Tagung im Dezember zulässt.
Udo Hahn, Direktor, Evangelische Akademie Tutzing
Dr. Ulrike Haerendel, Historikerin, München