Ukrainische Kriegsflüchtlinge – wie kann Kirche helfen?
Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat ein enormes Maß an Solidarität und Hilfsbereitschaft ausgelöst. Um die Kriegsfolgen zu lindern und insbesondere den Flüchtenden Schutz zu bieten, braucht es gemeinsame Anstrengungen von Politik und Gesellschaft. Was bedeutet vor diesem Hintergrund gelebte, christliche Nächstenliebe im Angesicht des kriegerischen Schreckens? Welche zivilgesellschaftlichen Funktionen von Kirche sind gefragt?
Die Folgen des Ukrainekriegs, welcher gerade mal vor einem Monat begonnen hat, werden spürbarer. Menschen kommen zu uns. Vor ein paar Tagen erreichte mich eine Sprachnachricht, in der eine Bekannte nach einer Möglichkeit fragte, Orgelmusik zu hören. Sie hat eine geflüchtete ukrainische Mutter mit Kind aufgenommen, die sich Orgelmusik in einer Kirche wünscht. “Wie ist das so bei Euch? Gibt es die Möglichkeit, da mal zuzuhören?”.
Meine Bekannte ist weder Kirchenmitglied noch besonders kirchennah. Sie weiß jedoch, dass ich den Prädikantendienst in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Weiden in der Oberpfalz ausübe. Eine gute Frage: Wie ist das bei uns? Es hätte auch eine allgemeine Frage zur Rolle der Kirche angesichts der vielen Flüchtlinge sein können. Aber erstmal geht’s “nur” um Orgelmusik: Wie gut, dass es hier einen aktiven Freundeskreis der Evangelischen Akademie Tutzing gibt, der noch in diesem Monat zu einem Orgelkonzert einlädt. Auf diese Möglichkeit, den Klängen der Max-Reger-Orgel zu lauschen, konnte ich spontan verweisen. Auch kenne ich in etwa die Probenzeiten der Orgelschülerinnen und Orgelschüler. Meine Nachfrage bei der Organistin ergab, dass es auch in der offenen Kirche der Gemeinde St. Michael viele weitere Stunden Orgelmusik pro Woche gibt.
Offenheit zeigen, heilsam wirken
Es ist ein kleines Beispiel, wie Kirche mit ihren Gebäuden, durch Orgelmusik und die Unterstützung aktiver Gläubiger helfen kann. Hauptsache, wir sind offen, finde ich: Gebäude wie Menschen. Viele überlegen, was diese Offenheit nun konkret bedeutet, wenn hunderttausende Kriegsflüchtlinge unsere Hilfe brauchen.
Gemeinwesensdiakonie als ein Weg gegen die aktuelle Not und für die eigene Zukunft?
Die hilfesuchenden Menschen aus der Ukraine zeigen der Kirche ihre Aufgabe im Sinne einer Gemeinwesensdiakonie auf, die uns vielleicht gar nicht so bewusst sind. Was bedeuten diese zivilgesellschaftlichen Funktionen im Angesicht der neuen Flüchtlingskrise? Fünf dieser Funktionen wurden vor drei Jahren in einer Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) herausgearbeitet: [1]
Kirchengemeinden können eine aktive Kompensationsfunktion dort einnehmen, wo die Zivilgesellschaft vor Ort Unterstützung bei ihren sozialräumlichen Aufgaben braucht, beispielsweise durch die Vermietung ihrer Räumlichkeiten für die vorübergehende oder vielleicht sogar dauerhafte Unterbringung Schutzsuchender. Gleichzeitig lebt Kirche ihre Integrationsfunktion durch persönliche Patenschaften. Es muss nicht immer die Aufnahme in die eigene Wohnung sein. Es gründen sich Helferkreise, werden mithilfe kirchlich Aktiver Kleider- und Lebensmittelspenden gesammelt und vieles mehr.
Intervention, Moderation und Sozialisation als weitere zivilgesellschaftliche Funktionen
Die Intervention in Form von Kirchenasyl für Geflüchtete ist durch die erteilte Aufenthaltstitel für mindestens ein Jahr im Falle der ukrainischen Flüchtlinge nun weniger gefragt. Unsere Zeit und Kraft, ihnen mit Offenheit und Engagement zu begegnen, vielleicht sogar ihnen ein Obdach zu bieten schon. Meine Bekannte hier in Weiden lebt das vor.
Auch auf eine andere, kommunikative Art kann Kirche, können Kirchengemeinden vor Ort präsent sein, wenn sie sich als ausgleichender Moderator verstehen. Sie können sich als Hüter von Werten der Achtung jedes Menschen aufgrund seiner oder ihrer gottgegebenen Würde dafür einzusetzen, den Diskurs ganz unterschiedlicher Positionen zu ermöglichen. Auch wir an der Evangelischen Akademie Tutzing tun das themenbezogen, etwa zur Frage von Desinformation, die dem kriegerischen Elend seit Ende Februar schon lang vorausging (den Tagungsbericht zu einer Tagung aus dem September 2021 meiner Kollegin Alix Michell finden Sie hier). Kirchliche Akteure können und müssen sich in lokale und überregionale gesellschaftspolitische Diskurse einmischen. Die Öffentlichkeit sucht nach verlässlichen Räumen der Information, der Diskussion und des Austausches.
Schlussendlich können Kirchengemeinden mit dem Fokus auf den Kompetenzerwerb und das Wirken Ehrenamtlicher auch die Funktion der Sozialisation einnehmen. Meine Bekannte hat das uns als Gemeinde vorgelebt, in dem sie eine Frau in Not und ihr Kind aufnahm.
Ich finde, an diesem Beispiel kann man zeigen, dass Kirche ein wichtiger Akteur bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise sein kann, ein Faktor für die Gestaltung einer guten Zukunft für alle.
Dr.-Ing. Martin Waßink
Der Autor ist Volkswirt und arbeitet als Studienleiter für Wirtschaft und Arbeitswelt, Nachhaltige Entwicklung an der Evangelischen Akademie Tutzing. Er hat kürzlich seine Promotion zu Kooperationsprozessen und Verantwortungsteilung in Netzwerken unter Beteiligung kirchlicher Akteure erfolgreich abgeschlossen.
[1] Ohlendorf und Rebenstorf (2019). Überraschend Offen. Kirchengemeinden in der Zivilgesellschaft. Sozialwissenschaftliches Institut der EKD