Überlegungen zur Postwachstumsgesellschaft angesichts der Corona-Krise
Durch die Corona-Krise wird das öffentliche Leben eingeschränkt, die Wirtschaft erlahmt, das Wirtschaftswachstum geht zurück. Die erste Veranstaltung, die die Evangelische Akademie Tutzing aufgrund der Corona-Krise absagen musste, war die Tagung „Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft“. Im folgenden Artikel fragt die Mitveranstalterin und Ökonomin Irmi Seidl: Haben Corona-Krise und die Debatte über Postwachstum Berührungspunkte? Könnte es sein, dass wir Lehren aus sich nun entwickelnden Praktiken für eine Postwachstumsgesellschaft ziehen können?
Trotz zahlreicher wachstumskritischer Stimmen halten Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an ihrer Orientierung am Wirtschaftswachstum fest. Nachhaltige Entwicklung wird als Nachhaltiges Wachstum vereinnahmt; der Schutz der Umwelt steht unter Wachstumsvorbehalt. Die Diskussion um eine Postwachstumsgesellschaft lädt zum Nachdenken und Entwickeln von Konzepten und Praktiken darüber ein, wie Wachstumszwänge überwunden werden können. Hinter der Orientierung am Wirtschaftswachstum steht die Vorstellung, die Wirtschaft könne dauerhaft exponentiell wachsen.
Leider ist es schwer zu erfassen, was exponentielles Wachstum bedeutet. Die Ausbreitung des Corona-Virus folgt einem exponentiellen Verlauf. Ein Artikel der Süddeutschen Zeitung über die exponentielle Ausbreitung des Virus („Die Wucht der großen Zahl“, 10.3.20) führt die Dramatik der Entwicklung vor Augen. Die Autorinnen Endt, Mainka und Müller-Hansen erklären exponentielles Wachstum wie folgt:
„Es geht um eine Vermehrung, die sich ständig selbst beschleunigt. Und dieses Muster lässt sich auch beim Corona-Virus erkennen. Das ist der Hintergrund, warum nun immer strengere Auflagen verhängt werden, Fußballspiele ohne Publikum ausgetragen, Feste und Kongresse abgesagt werden. Und warum Gesundheitsminister Jens Spahn, Kanzlerin Angela Merkel und andere davon sprechen, man müsse die Ausbreitung des Virus verlangsamen. Sprich: Verhindern, dass es sich exponentiell verbreitet.
Der Mensch ist an lineare Prozesse gewöhnt, die kann er begreifen. Beim linearen Wachstum kommt in festen Zeitabständen eine feste Anzahl an Fällen hinzu, beispielsweise Tausend pro Woche. Beim exponentiellen Wachstum dagegen findet in einem festen Zeitraum jeweils eine Verdopplung der Fallzahl statt. Exponentielles Wachstum ist gefährlich, weil man es am Anfang leicht unterschätzt. Denn zu Beginn läuft die Kurve gemächlich vor sich hin. Dann wird sie immer steiler und schießt bald nahezu senkrecht nach oben.“
Exponentiell haben sich auch Naturverbrauch und Emissionen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt. Die Autorinnen und Autoren des Buches „Grenzen des Wachstums“ (Meadows und andere 1972) haben dies schon Ende der 1960er Jahre erkannt und 1972 ihr Buch dazu veröffentlicht. Aber das Gros der Menschen und vor allem viele Ökonomen haben die Überlegungen und Berechnungen nicht verstanden, haben die Autorinnen und Autoren angefeindet. Heutige Berechnungen zeigen, dass sie mit ihrem Buch richtig lagen und mit ihren vergleichsweise einfachen Computern die Dynamiken verblüffend gut prognostizierten (Turner 2012).
Noch immer ist exponentielles Wachstum der wirtschaftlichen Leistung das vorrangige wirtschaftspolitische Ziel. Drei Prozent jährlich sollten europäische Länder gemäß Lissabon-Strategie in den 2000er Jahren erreichen. Das bedeutet eine Verdoppelung der Wirtschaftsleistung in 23 Jahren: Doppelt so viele Produkte und Dienstleistungen, aber auch doppelt so viel Emissionen und Umweltverschmutzung. Weil die Umweltprobleme inzwischen krisenhaft sind, stellen nationale und internationale Wirtschaftsorganisationen sogenanntes „Grünes Wachstum” in Aussicht. Es gibt aber bislang keine Hinweise, dass sich Wachstum und Umweltverbrauch sowie -belastung absolut entkoppeln lassen, d.h. dass das Wachstum weiter wachsen kann bei gleichzeitig zurückgehendem Umweltverbrauch.
Obwohl viele Menschen aus Politik und Wirtschaft das Prinzip des exponentiellen Wachstums und die daraus entstehenden Probleme grundsätzlich verstehen dürften, streben sie trotzdem ständiges Wachstum an. Dies brachte uns zur Frage (Seidl/Zahrnt 2010): Wieso ist in unserer Gesellschaft, Wirtschaft und Politik das Wirtschaftswachstum so wichtig? Dazu haben wir die folgenden Thesen formuliert:
- Zentrale Bereiche von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft sind existentiell auf Wachstum angewiesen (z.B. soziale Sicherung, Unternehmen, Banken, öffentliche Haushalte und insbesondere auch der Bereich der Erwerbsarbeit).
- Ausbleibendes Wachstum bringt diese Bereiche in existentielle Krisen.
- Politik und Gesellschaft werden alles tun, um solche Krisen zu vermeiden, z.B. Konjunkturpakete schnüren, Abwrackprämien zahlen, die Märkte mit billigem Geld fluten.
- Erst wenn diese Bereiche wachstumsunabhängig sind, werden Politik und Gesellschaft ihre Wachstumsfixierung aufgeben und der Umweltpolitik Priorität geben.
Damit sind wir beim Thema der ausgefallenen Tagung „Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft“. Die übergreifende Frage der Tagung war: Wie kann der Bereich der Erwerbsarbeit wachstumsunabhängig gestaltet und damit Postwachstum möglich werden?
Bislang brauchen wir Wachstum, um ausreichend Erwerbsarbeit mit guten Löhnen zu sichern, damit die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Existenz sichern können, damit sie in die Sozialversicherung einzahlen und Renten sowie Gesundheitsleistungen beziehen können, damit sie Steuern zahlen und so die öffentlichen Haushalte mitfinanzieren können. Um wachstumsunabhängig zu werden, müssen diese Zusammenhänge aufgelöst werden.
Erwerbsarbeit wird zwar weiterhin wichtig bleiben, soll aber kein so großes Gewicht mehr haben – für die individuelle und familiäre Existenz, die soziale Sicherung, die öffentlichen Haushalte und den und die Einzelnen. Vielmehr muss viel mehr Platz neben Erwerbsarbeit sein für andere Tätigkeiten, sie müssen eine größere Bedeutung erhalten – wir nennen solch erweitertes Arbeiten „Tätigsein“.
Dazu braucht es verschiedenste Änderungen im Bereich der Arbeit. Auf der Tagung wollten wir die Grundlagen dafür diskutieren, auf den Sozialbereich eingehen und verschiedene Praxisbereiche anschauen, wo bereits Tätigsein stattfindet. Tätigsein ist ein Oberbegriff für
– die Vielfalt möglicher Arbeiten, inkl. Erwerbsarbeit
– verschiedene Formen von Arbeit, die Menschen nach- oder nebeneinander realisieren (im Sinne von Mischarbeit)
– Arbeit, die tätigen Menschen und Gesellschaft als sinnvoll erscheint.
Können Praktiken, die während der Corona-Pandemie entstehen, relevant sein für die Entwicklung hin zu einer „Tätigkeitsgesellschaft“? Möglicherweise ja:
- Viele „testen“ nun Home Office-Lösungen. Home Office spart CO2 und Zeit, indem Pendeln wegfällt. Diese Zeit gewinnen wir und können sie für andere Tätigkeiten und Muße einsetzen. Insgesamt hat die Digitalisierung Potenziale, die Erwerbsarbeit humaner, selbstbestimmter zu gestalten und Spielräume zu öffnen für Tätigsein. Doch diese müssen gehoben werden (siehe Nierling und Krings in Seidl/Zahrnt 2019).
- Die Arbeitswelt umzugestalten, so dass Tätigsein vermehrt möglich wird, erfordert viel Selbstorganisation und Kreativität seitens der Zivilgesellschaft. Die aktuelle Pandemie zeigt uns, dass solche Qualitäten schnell entstehen. Es ist zu hoffen, dass die Selbst-Ermächtigung ermutigt, Ähnliches zu entwickeln für die sozio-ökologische Transformation inkl. der Transformation der Arbeitswelt.
- Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft bedeutet auch, dass verschiedene Leistungen dekommodifiziert werden – das heißt, nicht mehr über den Markt koordiniert und gehandelt werden, sondern Kriterien wie Gegenseitigkeit, Gerechtigkeit, Nachbarschaft, Subsistenz folgen.
Dazu ein Beispiel aus dem Nahrungsmittelbereich: Heute sind es die großen Multis wie Nestlé, die einen Großteil des Convenience-Food (60 Prozent des Lebensmittelmarktes) verkaufen. In diesem Bereich lässt sich gut dekommodifizieren: sich regional und verstärkt selbst versorgen, vielleicht gar durch solidarische Landwirtschaft. Dies schafft Sicherheit – gerade in Zeiten wie den jetzigen und es verringert unsere Abhängigkeit von globalen Lieferketten, die inzwischen sogar höchste politische Ebenen als problematisch erkennen. - Tätigsein steht auch dafür, dass Alltagsfähigkeiten entwickelt und praktiziert werden: Dinge selbst reparieren zu können, sich zu helfen wissen, wenn mal etwas im Haus ausfällt, eine eigene Hausapotheke unterhalten: solche Fähigkeiten sind nützlich in Krisensituationen wie der jetzigen und sind vielleicht auch bei Nachbarn gefragt.
- Tätigsein hilft uns auch jetzt, unseren Alltag zu strukturieren. Dazu fällt mir eine Autobiografie von Aung San Suu Kyi ein. Ihrem 15 Jahre dauernden Hausarrest gab sie Struktur und Regelmäßigkeit, indem sie täglich zu einer festen Zeit Klavier spielte, ihre Japanischkenntnisse praktizierte und täglich kochte.
Tätigsein in einer Postwachstumsgesellschaft fragt auch nach der Arbeit im Globalen Süden. Stoll stellt in seinem Beitrag in Seidl/Zahrnt 2019 anschaulich dar, dass 70 Prozent der Weltbevölkerung informell arbeitet, das bedeutet, keinen Vertrag und keinerlei Schutz bei Krankheit, Alter oder Arbeitsverlust hat. Diese Menschen sind von der Corona-Krise besonders betroffen angesichts ihrer prekären Situation, der dort schwachen Infrastruktur und dem Zusammenbruch der dortigen Exportmärkte. Deshalb muss es Ziel jeglicher sozio-ökologischen Transformation sein, die Lebens- und Arbeitsbedingungen dieser Menschen zu verbessern, aber gleichzeitig auch die aktuelle globale Abhängigkeit und Interdependenz auf ein Maß zu verringern, das die gesellschaftliche und ökonomische Resilienz der Systeme sowohl im Globalen Norden wie Süden erhöht.
Auch eine größere biologische Resilienz gegenüber Krankheiten und Pandemien hat mit wirtschaftlicher Entwicklung zu tun, denn die zunehmende Zerstörung natürlicher Lebensräume – auch eine Folge des Wirtschaftswachstums – senkt den Puffer zwischen Mensch und Tier und damit auch den Schutz vor Viren aus der Tierwelt wie Shan (2020) anschaulich argumentiert.
Die CO2-Emissionen werden jetzt sinken wie schon in der Wirtschaftskrise von 2008. Doch damals stiegen sie nach der Krise wieder an. Auch aus dieser Erfahrung heraus sollten wir darüber nachdenken, welche neuen Praktiken – auch des Tätigseins –, die wir jetzt in der Krise entwickeln, wir beibehalten wollen. Dies könnte ein Schritt auf dem Weg in eine Postwachstumsgesellschaft sein.
Prof. Dr. Irmi Seidl
Die Autorin ist Leiterin der Forschungseinheit Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Eidgenössischen Forschungsanstalt Wald, Schnee und Landwirtschaft (WSL) im Schweizerischen Birmensdorf. Sie war Mitorganisatorin der Tagung „Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft“ der Evangelischen Akademie Tutzing. Infos zur geplanten Tagung finden Sie in unserem Archiv unter diesem Link.
Quellen:
Endt, C., Mainka M., Müller-Hansen, S. 10.3.2020. Die Wucht der großen Zahl, Süddeutsche Zeitung. https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/wissen/coronavirus-die-wucht-der-grossen-zahl-e575082/
Meadows, D.H., D.L. Meadows, Randers, J., W.W. Behrens. 1972. Die Grenzen des Wachstums: Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt.
Nierling, L., B.-J. Krings. 2019. Digitalisierung und erweiterte Arbeit. In: Seidl, I., A. Zahrnt (Hrsg.). Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft. Marburg: Metropolis-Verlag. 175-190.
Seidl, I., A. Zahrnt. (Hrsg.) 2010. Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft. Marburg: Metropolis-Verlag.
Seidl, I., A. Zahrnt. (Hrsg.) 2019. Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft. Marburg: Metropolis-Verlag.
Shan, S. 2020. Woher kommt das Coronavirus? LE MONDE diplomatique, März, S. 8.
Stoll, G. 2019. Arbeit in Entwicklungs- und Schwellenländern. In: Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft. Herausgegeben von I. Seidl, A. Zahrnt. Marburg: Metropolis-Verlag. 227-253.
Turner, G.M. 2012. “On the cusp of global collapse? Updated comparison of The Limits to Growth with Historical Data.” GAIA 21(2): 116-124.
Bild: Prof. Dr. Irmi Seidl (Foto: Bruno Augsburger)