BEDINGUNGSLOSES GRUNDEINKOMMEN
– UTOPIE ODER BALD REALITÄT?
von Martin Waßink, Studienleiter für Wirtschaft und Arbeitswelt, Nachhaltige Entwicklung
Halten Sie ein bedingungsloses Grundeinkommen für realistisch? Und fänden Sie es gut, wenn es eingeführt würde?
Diese Fragen haben wir gleich zu Beginn der Online-Podiumsdiskussion der Evangelischen Akademie Tutzing in Kooperation mit dem Evangelischen Bildungswerk Regensburg unseren Gästen gestellt.
Das Stimmungsbild: Eine knappe Mehrheit der Teilnehmenden hielt es für realistisch. Ähnlich knapp wurde die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens befürwortet.
Kann ein bedingungsloses Grundeinkommen tatsächlich funktionieren? Falls ja, wie genau? Und nicht zuletzt: Wäre es gerecht? Darüber sprachen und diskutierten:
- Prof. Bernhard Neumärker, Inhaber der Götz Werner Stiftungsprofessur am Freiburger Institut für Grundeinkommensstudien (FRIBIS), der als begleitender Wirtschaftswissenschaftler im Oktober 2020 mit anderen eine Petition zur Einführung eines Kriseneinkommens eingereicht hat
- Ulrike Mascher, Vorsitzende des VdK Bayern, die einem bedingungslosen Grundeinkommen grundsätzlich skeptisch gegenüber steht und andere Vorschläge macht
- Prof. Jürgen Schupp, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin, der in diesem Frühjahr das deutschlandweite “Pilotprojekt Grundeinkommen” federführend begleitet.
Warum wir gerade jetzt diese Debatte führen
So lang und so kontrovers diese Diskussion zu Für und Wider seit Jahrzehnten geführt wird – noch gibt es in keinem Land ein bedingungsloses Grundeinkommen. Ein Grund ist: Viele Fragen dazu sind noch offen. Co-Moderator Dr. Carsten Lenk (EBW Regensburg) nannte in seiner Einführung einige: Wären Gesellschaften mit einem Grundeinkommen für künftige Krisen besser gerüstet als neoliberal geprägte Wirtschaftssysteme aus dem angelsächsischen Raum? Wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen eine “Stilllegungsprämie” für viele, wie Stimmen aus Gewerkschaften und auch Kirche ihre Skepsis gegenüber Konzepten eines bedingungslosen Grundeinkommens formulieren? In den letzten Jahren sprachen sich auch immer mehr konservative Ökonomen wie etwa Thomas Straubhaar von der Uni Hamburg öffentlich für eine Art bedingungsloses Grundeinkommen aus. Zuletzt stimmte der Philosoph Richard David Precht in seinem Buch “Jäger, Hirten, Kritiker” in den Chor der Befürworter ein. Zudem werden immer mehr Experimente in Form von Feldstudien durchgeführt, um den dadurch entstehenden Systemwechsel in der Arbeits- und Lebenswelt zu erproben. In Finnland wurde beispielsweise Anfang 2017 unter Arbeitssuchenden eine gewisse Anzahl an bedingungslosen Grundeinkommen verlost. Sogar die Vereinten Nationen werben für ein zeitweiliges, weltweites Grundeinkommen für drei Milliarden Menschen in ärmeren Ländern zur Bekämpfung der Pandemie.
Vor kurzem, am 1. Juni 2021, wurde es bei uns in Deutschland konkret – zumindest für 122 ausgewählte Menschen, die drei Jahre lang eine monatliche Auszahlung von 1.200 Euro im Rahmen einer Feldstudie erhalten und regelmäßig befragt werden. So sollen (im Abgleich mit einer Vergleichsgruppe aus sogenannten statistischen Zwillingen) die Wirkungen eines bedingungslosen Grundeinkommens erforscht werden, wie Jürgen Schupp vom DIW Berlin in seinem Vortrag während unserer Veranstaltung ausführte. Wir werden zu späterer Stelle darauf zurückkommen.
Zunächst jedoch soll es um die Grundidee eines bedingungslosen Grundeinkommen ganz allgemein gehen. Diese stellte Bernhard Neumärker vor – samt seinem Vorschlag für ein vorgelagertes Krisenkonzept.
Was versteht man eigentlich unter einem bedingungslosen Grundeinkommen?
Vortrag von Prof. Dr. Karl Justus Bernhard Neumärker, Inhaber der Götz Werner Stiftungsprofessur am Freiburger Institut für Grundeinkommensstudien (FRIBIS)
Die Idee: Jedes Gesellschaftsmitglied erhält von Geburt bis zum Tod einen monatlichen Geldbetrag ohne irgendeine Bedingung, Bedürftigkeitsprüfung oder Gegenleistung. Anspruchsberechtigt wären dann alle – unabhängig von Einkommen oder Vermögen.
Zwei grundsätzliche Ausgestaltungsvarianten:
Umfassendes oder partielles bedingungsloses Grundeinkommen
Die meisten Befürworter beziehen sich nach Neumärker auf ein partizipatives, umfassendes Konzept eines bedingungslosen Grundeinkommens. Das bedeutet, dass die Höhe der monatlichen Zahlung ausreichend hoch sein muss, sodass eine Teilnahme am soziokulturellen Leben möglich ist. Relative Armut soll vermieden werden.
Dem gegenüber steht das sogenannte partielle bedingungslose Grundeinkommen, das auf dem Konzept der negativen Einkommensteuer beruht, also ein bedarfsorientierter und anreizorientierter Vorschlag ist. Bei diesem Konzept aus dem Jahr 1962, eingebracht vom späteren Nobelpreisträger Milton Friedman, werden die nötigen Lebensgrundlagen nur teilweise abgedeckt. Ganz ohne Bedingungen ist es in diesem anreizorientierten System gerade nicht gedacht.
Bernhard Neumärker selbst befürwortet eine Mischung aus den beiden Grundkonzepten. Er ist überzeugt, dass gerade die derzeitige Coronakrise für eine von ihm entwickelte Vorstufe zum bedingungslosen Grundeinkommen hilfreich ist: Die Idee eines Nettogrundeinkommens in der Krise.
Vom Kriseneinkommen zum Grundeinkommen
Wie ein bedingungsloses Grundeinkommen in Kriseneinkommen funktionieren könnte
Er erklärt es so: Ein Kriseneinkommen erfordert erst gar keine von vorneherein nur fehlerhaft mögliche Bedürftigkeitsplanung und erhebt auch nicht den Anspruch, passgenau zu sein. “Es weicht der ex-ante-Steuerung von Interessensgruppen aus”, so Neumärker. Schließlich würde sich jeder und jede strategisch als systemrelevant in der Coronakrise darstellen, so seine These. Außerdem habe er beobachtet, dass Menschen teilweise Wahrheit flexibel handhaben, wenn es darum geht, in staatliche Hilfsprogramme hineinzukommen. All das würde bei dem von ihm propagierten Konzept eines Nettogrundeinkommen wegfallen.
Die von Neumärker propagierten Hilfsmaßnahmen sollen zu einer Umverteilung von Kapital- und Besitzeinkommen führen. Derzeit würden einerseits staatliche Hilfsmaßnahmen mit großen Geldbeträgen gestemmt, andererseits aber leistungslose Einkommen wie Miet– und Zinseinkommen nicht angetastet. Doch wie fair und solidarisch ist es, wenn viele Arbeitseinkommen von vornherein durch den Lockdown sozusagen “abgestellt” werden, Kapitaleinkommen jedoch nicht?
Neumärkers stärkste Änderung durch sein Modell im Vergleich zum Status Quo ist wohl, dass Miet- und Kapitaldienste (Zinszahlungen) in der Krise nicht mehr bedient werden würden – dafür aber auch alle Vermieter, Aktienbesitzer und Banker das Grundeinkommen bekämen. Es würde zugleich eine besondere Form der Solidarität bedeuten: Alle würden sich solidarisch zeigen und auch wohlhabenderen Menschen würde zeitweise durch die ausbleibenden Miet-und Kapitaleinkommen etwas weggenommen. Durch den Abzug der Zins- und Mieteinkommen ergibt sich bei Neumärker der Begriff des “Nettogrundeinkommens” (NGE).
“Ein gigantischer Vorteil des Nettogrundeinkommenskonzepts”
Neumärker zeigte in der Veranstaltung eine Vielzahl an Vorteilen auf, die sein Modell für die Gesellschaft habe. So stellt das Konzept nicht nur eine sozialpolitische Maßnahme dar, sondern hätte auch Vorteile für die Bildungspolitik in der Krise: Unternehmen falle es leichter, dringend nötige Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, wenn sie auf Miet- und Zinszahlungen für Kredite verzichten könnten. Das wäre aus Sicht von Neumärker zielführender als die beschlossene Ausbildungsplatzförderung der Bundesregierung, bei der fraglich sei, ob es einen ausreichenden Anreiz für Unternehmen darstelle, um Ausbildungsplätze zu erhalten. Neumärker ist überzeugt, dass das von ihm skizzierte Modell auch aktive Wirtschafts- und Umweltpolitik betreiben kann – das Nettogrundeinkommen würde es beispielsweise erlauben, energetische Sanierungsmaßnahmen fortzuführen.
Die errechneten Kosten für sein Modell: 173 Milliarden Euro – eine riesige Summe. Neumärker relativiert hier: Vergleiche man diese Ausgaben mit den Kosten für die bereits beschlossenen Corona-Hilfsmaßnahmen wäre das NGE “spielend leicht zu finanzieren”.
Der Ökonom vertritt die Meinung: Das Krisengrundeinkommens ist solidarisch, weil es jeder bekommt und auch gerecht, denn jeder Mensch kann von einem Tag auf den anderen von Einschränkungen aufgrund von Krisen (wie der Corona-Pandemie) betroffen sein. Gerade in der Krise sei das Nettogrundeinkommen sinnvoll, denn es verhindert, dass eine Umverteilung an Kapitaleigner und Vermieter erfolgt, wie es in der Coronakrise der Fall ist.
Vom Nettogrundeinkommen zum bedingungslosen Grundeinkommen “als krisenstabilisierenden Mechanismus!”
Neumärker schloss mit der These, dass eine Gesellschaft mit einem Grundeinkommens resilienter sei als die aktuelle, erwerbsarbeitsorientierte “Kurzarbeitergesellschaft”. Konkrete Schritte hin zur Grundeinkommensgesellschaft wurden bereits gegangen – bis hin zur politischen Umsetzung: Sein Konzept wurde als Petition mit über einer halben Million Unterschriften im Herbst eingereicht und ist im Bundestag in Form einer öffentlichen Anhörung angekommen, auch wenn diese von der Regierungsmehrheit unter anderem mit der Befürchtung abgelehnt wurde, dass die Beschäftigung zurückgehe, weil Arbeit nun oft “unangenehm” sei.
Kritik am Grundeinkommen
Warum das bedingungslose Grundeinkommen keine gerechte gesellschaftliche Lösung ist
Die breite Unterstützung seiner Petition erkannte Ulrike Mascher Vorsitzende des VdK Bayern an. Sie machte in ihrem Vortrag aber deutlich, dass sie ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht für eine gerechte, gesellschaftliche Lösung erachtet.
Ulrike Mascher, Landesvorsitzende des Sozialverbandes VdK Bayern, Ehrenpräsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland, während ihres Vortrags
Maschers Haltung: Ein Grundeinkommen ist keine Patentlösung, sondern es kommt auf die Detailgestaltung an. Viele Konzepte seien ausführlich diskutiert worden, unter anderem beim sozialpolitischen Forum des VdK im Jahr 2006, wo Götz Werner selbst gesprochen hatte. Der bekannte Unternehmer und Gründer der Drogeriemarktkette dm verband die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens mit der Abschaffung sämtlicher Steuern (bis auf die Mehrwertsteuer), Sozialversicherungen und anderer Sozialleistungen. Sein Credo: Nur bei besonderen Bedarfen gibt es auch zusätzliche Leistungen. Dies kritisierte Mascher ausdrücklich als drastische Erleichterung für Reiche. Arme würden in so einer Ausgestaltung der Finanzierung viel höher belastet, da diese einen vergleichsweise höheren Anteil ihres Einkommens konsumierten und damit mehr durch die Mehrwertsteuer belastet seien.
Sie kritisierte auch die zuweilen geforderte Deregulierung wie die Abschaffung von Arbeitsschutzgesetzen sowie Formen von bedingungslosem Grundkommen mit einem einheitlichen Einkommenssteuersatz (Flat-Tax). Hierbei, so Mascher, sei die Schaffung eines Minimalstaates das wahre Ziel solcher Bestrebungen. Die Landesvorsitzende des Sozialverbandes VdK Bayern sagte, sie werde besonders hellhörig, wenn Unternehmer wie der ehemalige Siemens-Chef Joe Kaeser erklärten, dass eine Werksschließung kein Problem sei, wenn es ein bedingungsloses Grundeinkommen gebe – die Verantwortung für Arbeitsplätze hätten Unternehmer dann nicht mehr.
Alternative Forderungen
Mascher kritisierte die Kleinrechnung des staatlichen Anspruchs auf Grundsicherung. Der VdK spräche sich seit jeher eine einfachere Inanspruchnahme der bestehenden Grundsicherung aus. Sie forderte, dass diese Grundsicherung einen Umfang haben müsse, dass gesellschaftliche Teilhalbe dauerhaft sichergestellt sei. Es brauche in vielen Bereichen eine sozialere Politik in Gestalt höherer Mindestlöhne und den Einbezug aller, auch von Beamten und Selbstständigen, in das Rentensystem. Die Sozialpolitik solle am wirklichen Bedarf ansetzen statt ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen.
Es gäbe Alternativen, wie die Erhöhung der Hartz IV Regelsätze auf 600 Euro, damit wirkliche gesellschaftliche Teilhabe möglich werde. Auch eine Kindergrundsicherung sei überfällig. Ferner brauche es einen Freibetrag für die gesetzliche Rente (analog zur Riester-Rente) und insgesamt höhere Mindestlöhne. Mascher kommt zu dem Schluss, dass das bedingungslose Grundeinkommen kein Lösungsansatz ist. Auch eine Leistungsgerechtigkeit sei durch ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht herzustellen. Das von Thomas Straubhaar kürzlich geforderte “solidarische Bürgergeld” sehe keine Umverteilung vor. Diejenigen, die viel haben, würden dann noch reicher.
Praxistest ab Juni 2021
Von ideologiebelasteten Simulationsstudien zu Realexperimenten:
Das Pilotprojekt Grundeinkommen als Langzeitstudie in Deutschland
Frau Mascher sei mit ihrer Skepsis in guter Gesellschaft, gestand Prof. Dr. Jürgen Schupp, Projektleiter des Pilotprojekts Grundeinkommen des DIW, ein.
Vortrag von Prof. Dr. Jürgen Schupp, Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin und Senior Research Fellow am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)
Lange habe auch er ein bedingungsloses Grundeinkommen als “nette Idee ohne Realitätsbezug” abgehakt. Vor fünf Jahren sei er aber im Zuge des Referendums in der Schweiz neugieriger geworden, auch weil gerade Jüngere sich immer offener dafür zeigten.
Schupp spricht sich dafür aus, die “ideologiebelasteten Simulationsstudien” zu verlassen und Realexperimente durchzuführen. Er möchte ein bedingungsloses Grundeinkommen experimentell erproben. Er stellte daraufhin sein empirisches Pilotprojekt Grundeinkommen zusammen mit dem Max-Planck-Institut für Gemeinschaftsgüter in Köln sowie dem Verein Mein Grundeinkommen e.V. vor.
Konzepte des bedingungslosen Grundeinkommens tauchten bereits in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufgrund der Automatisierung als Überlegung auf. Entwicklungen und Folgen der Künstlichen Intelligenz mit einem großen Umschulungsbedarf, Care-Ökonomien und ganz generell die demografische Entwicklung stellen unsere heutige generationenübergreifende Beitragsfinanzierung in der Sozialversicherung Stück für Stück in Frage.
Ebenso in den 80erJahren sprach sich der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf für die Idee eines Bürgergelds als individuelles Bürgerrecht aus. Schupp warf die Frage auf, ob man dieses Konzept von einem “konservativen Wohlfahrtsstaatssystem” hin zu einem Bürgerrechtsmodell weiterentwickeln könne.
Wie kann sich Wissenschaft in die Diskussion einmischen?
Forscher, wie zum Beispiel kürzlich das ifo Institut für Wirtschaftsforschung, hätten bisher oft nur Simulationsstudien durchgeführt. Diese berücksichtigen keine Verhaltenspassungen und würden das Geschehen überzeichnen. Klischees und Stereotype würden so empirisch nicht wirklich geprüft. Deshalb spricht sich Schupp für Feldexperimente aus und setzt diese auch um.
Der wesentliche Vorteil: Ursächliche Veränderungen können so im individuellen Handeln identifiziert werden. Die interne Validität sei durch die Bildung von Vergleichsgruppen klar gegeben, so Schupp, auch wenn die externe Validität zur Verallgemeinerung und Übertragbarkeit von Erkenntnissen strittig bleibe.
Um eine größtmögliche Aussagekraft von Experimenten zu bekommen, die Art der Finanzierung wichtig. In Finnland wurden die Forschenden von der Regierung beauftragt und waren in ihrer Arbeit daher nicht unabhängig von Parteiinteressen.
Ein Praxistest in Deutschland – das Pilotprojekt Grundeinkommen
Das DIW hingegen führt die Studie in Zusammenarbeit mit dem Start-Up und Social Entrepreneur “Mein Grundeinkommen e.V.” durch, das die Finanzierung über die Zivilgesellschaft organisiert. So konnten durch Spenden von über 200.000 “Crowdhörnchen”, also Unterstützern, bereits über 700 Menschen ein bedingungsloses Grundeinkommen für ein Jahr finanziert werden. Deren Geschichten und Erfahrungen bildeten als “anekdotische Evidenz” die Grundlage für Hypothesen des von ihm geplanten wissenschaftlichen Experiments.
Wichtig für Schupp ist, dass die Zivilgesellschaft Voraussetzung für seine Forschung ist. Insgesamt werden so über fünf Millionen Euro in der Gesellschaft umverteilt. Die Forschenden werden nicht dabei von dem kooperierenden Verein bezahlt, sondern führen ihre Forschungsarbeit autonom und unabhängig durch.
Wie läuft das Projekt nun ab? Drei Jahre lang bekommen repräsentativ ausgewählte Probanden ein Grundeinkommen. Mithilfe regelmäßiger Befragungen wird die Verhaltensänderung der Empfängerinnen und Empfänger analysiert. Von über zwei Millionen Interessierten wurden 1.500 Menschen ausgewählt. Von ihnen erhalten 122 Menschen seit dem 1. Juni 2021 monatlich eine Art bedingungsloses Grundeinkommen von 1.200 Euro, die anderen 1380 Probanden dienen als Vergleichsgruppe. So kann der ursächlichen Veränderung durch das bedingungslos ausgezahlte Grundeinkommen in den nächsten drei Jahren nachgespürt werden. Halbjährlich werden Fragen gestellt, ein erster Zwischenbericht mit vorläufigen Ergebnisse soll im Januar 2023 vorliegen. Der Abschlussbericht wird im Herbst 2024 zu erwarten sein und mithilfe einer empirischen Evidenz mögliche Klischees entweder verwerfen oder vielleicht auch bestätigen. Schupp: “Das ist ein offenes Forschungsfeld!”. Gerade für Singles in der Altersgruppe zwischen 21 und 40 Jahren erwartet Schupp auch repräsentative Ergebnisse.
Von anekdotischer Evidenz zur Bildung von Hypothesen
Jürgen Schupp skizzierte klare Zielvorgaben, die Erfolgsindikatoren sowie konzeptionelle Überlegungen zum Studiendesign des Pilotprojekts Grundeinkommen: Was machen die Menschen mit dem Geld? Wird es gespart, um Sicherheit zu ermöglichen? Investiert der Empfänger in Fernreisen oder Fortbildungen?
Kern seines Erkenntnisinteresse: Bleibt der Anreiz, zu arbeiten bestehen oder sogar wächst er sogar? Fördert das bedingungslose Grundeinkommen vielleicht sogar die Bereitschaft zur Selbständigkeit, weil man höhere Risiken eingehen kann? Auch die Wirkungen auf den psychologischen und gesundheitlichen Ebenen werden relevant sein. Verändert sich nicht nur das Einkommen, sondern auch das persönliche Gefühl von Sicherheit?
Was das Pilotprojekt Grundeinkommen nicht leisten kann
Doch es gibt auch Grenzen des laufenden Feldexperiments für die Erforschung eines bedingungslosen Grundeinkommens:
- Sämtliche Effekte auf der makroökonomischen Ebene (in Produktion und Konsum) sind nicht beobachtbar.
- Sowohl die Auswirkungen auf die Inflation als auch mittelbaren Auswirkungen eines zur Finanzierung eines Grundeinkommens nötigen, höheren Steueraufkommens können nicht durch die Studie beantwortet werden.
- Keine Aussagen können zu möglichen Wanderungsbewegungen nach Deutschland getroffen werden in Folge eines nur hier eingeführten bedingungslosen Grundeinkommens.
- Auch der bestehende Rechtsrahmen bleibt gleich und kann nicht geändert werden – das Grundeinkommen durch die Studie wird zusätzlich zu den sonstigen Einnahmen jedes einzelnen Probanden ausgezahlt.
Schupp brach eine Lanze dafür, die Utopie eines bedingungslosen Grundeinkommens weiter zu verfolgen und bemühte Jürgen Habermas: “Wenn die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus”.
Wie sich die Haltung der Onlinegäste durch die Debatte änderte
Nach der Veranstaltung mit drei fachkundigen Referierenden aus unterschiedlichen Disziplinen und ausführlicher Diskussion änderte sich das Meinungsbild der Tagungsteilnehmenden: Fast 80 Prozent hielten ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) grundsätzlich für realistisch. Auch nahm nach der kontroversen Online-Diskussion und dem intensiven Austausch die Anzahl der Gegner eines bedingungslosen Grundeinkommens unter den Onlinegästen ab. In jedem Fall wurden an diesem Abend gute Gründe deutlich, diese Diskussion weiter zu führen und konkrete Schritte auszuloten wie es in Feldexperimenten geschieht – zumal besonders die jüngere Generation dafür aufgeschlossen scheint.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist keine Utopie mehr. Immer mehr Argumente und gesellschaftliche Entwicklungen wie die Digitalisierung und die demografische Entwicklung sprechen dafür und lassen ein alternatives Modell der sozialen Sicherung in Form eines bedingungsloses Grundeinkommen realistischer erscheinen. Zu diesem fortlaufenden Diskurs möchte die vorliegende Ausgabe der Tutzinger Thesen einen Beitrag leisten.
Impressum
Studienleitung der Tagung “Bedingungsloses Grundeinkommen – Utopie oder bald Realität?”:
Martin Waßink, Studienleiter für Wirtschaft, Arbeitswelt und Nachhaltige Entwicklung, Evangelische Akademie Tutzing
in Kooperation mit:
Dr. Carsten Lenk, Geschäftsführer Evangelisches Bildungswerk Regensburg
Wir bedanken uns für die Unterstützung durch die AEEB und die finanzielle Förderung durch das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus.
Das Format „Tutzinger Thesen“ wird herausgegeben von der Evangelischen Akademie Tutzing.
Text:
Martin Waßink
Redaktion und Produktion:
Dorothea Grass, Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Fotos: eat archiv
Tutzing, im Juni 2021.