“Tragen, schützen, sammeln”
Vor 60 Jahren starb der Ausnahme-Architekt Olaf Andreas Gulbransson. Er entwarf die “Rotunde”, das kreisförmige Auditorium der Evangelischen Akademie Tutzing, das längst Wiedererkennungscharakter hat. In diesem Text erinnert Kirchenrat Andreas Hildmann, Sohn des ersten Direktors der Akademie, an den Architekten und führt seine besondere Verbindung mit der Akademie vor Augen.
Von Andreas Hildmann
Am Morgen des 17. Juli 1961 fuhr Gulbransson zu einer Baubesprechung nach Manching. Der Himmel war bedeckt. Still lag das bäuerliche Land. Plötzlich – auf der Höhe von Pfaffenhofen raste ein Wagen über den Grünstreifen der Autobahn direkt in das Fahrzeug des Architekten. Gulbransson wurde lebensgefährlich verletzt. Bei Sonnenaufgang starb er am folgenden Tag.
Die Todesnachricht erschütterte viele, auch Gerhard Hildmann, den damaligen Leiter der Evangelischen Akademie Tutzing, der einen Freund verlor. Er beerdigte Gulbransson auf dem Friedhof von Rottach-Egern. Nicht weit von der evangelischen Auferstehungskirche, die der Architekt vier Jahre zuvor erbaut hatte. Weiß, graziös und irgendwie tröstlich stand das Gotteshaus in jener Stunde vor den grünen Bergen.
Olaf Andreas Gulbransson wuchs unter Künstlern auf. Sein berühmter Vater Olaf, ein Norweger, war 1902 nach München gekommen, um für das Satiremagazin “Simplicissimus” zu zeichnen. Die humorvollen, treffenden, mitunter gewagten Karikaturen aus seiner Feder verrieten eine ungewöhnliche künstlerische wie kognitive Begabung. Später erhielt der Zeichner eine Professur an der Akademie der Bildenden Künste in München – als Maler. Es war die Nachfolge-Professur von Franz von Stuck. Die Mutter, Margarete, geborene Jehly, war Tochter eines Vorarlberger Landschaftsmalers. Sie wurde Schriftstellerin. Lesenswert ist ihr Buch “Geliebte Schatten”, eine Familiengeschichte.
Zunächst ging er in der Nähe von Oslo zur Schule. Als Gymnasiast wurde er im Landschulheim Schondorf untergebracht. Diese Einrichtung (heute “Landheim Ammersee”) vermittelte neben dem üblichen Stoff handwerkliche und künstlerische Kompetenz. Olaf Andreas entwickelte ein besonderes Interesse für Architektur.
1935 schrieb er sich als Architekturstudent an der Technischen Hochschule München ein. Zu seinen Lehrern zählten Adolf Abel, German Bestelmeyer, Roderich Fick und Hans Döllgast. Gleich nach dem Studium heiratete er die Textilkünstlerin Inger, geborene Janssen, Tochter des Bildhauers Ulf Janssen, der Professor an der Technischen Hochschule Stuttgart war.
Ein Familienleben, ein Einstieg in den Beruf aber waren ihm für Jahre verwehrt. Pazifist, der er war, musste er in den Krieg ziehen – nach Frankreich. Und an der Westfront als Funker dienen. Lungenkrank kehrte er zurück, lag lange im Lazarett, ohne wirklich gesund zu werden. Heilung fand er in einer einsamen Berghütte über dem Tegernsee. Wetter und Jahreslauf stellten ihm dort wechselnde Bilder vor Augen. Auch Gulbransson fing an, zu malen. Und nach dem Wesen der Berge und dem Ursprung der Welt zu fragen.
Fasziniert von einem Planungswettbewerb
Gegen Ende der vierziger Jahre konnte er berufstätig werden. Er wurde Regierungsbaumeister in der Obersten Baubehörde des Münchner Innenministeriums. 1953 schrieb die bayerische Landeskirche einen Planungswettbewerb für einen Kirchbau in Schliersee aus. Das interessierte Gulbransson. Er dachte an Otto Bartnings richtungsweisende Vorarbeiten, machte einen originären Entwurf, fertigte ein Modell aus altem Karton und fuhr damit nach Tutzing. Er wollte die Sache mit einem ihm vertrauten Theologen besprechen. Am Esstisch der Familie Hildmann breitete er seine Unterlagen und Überlegungen aus.
Er meinte, ein evangelisches Gotteshaus müsse ein Zentralbau sein. In der erspürten, nicht unbedingt geometrischen Mitte müsse der Altartisch stehen, als Christus-Symbol. Das Gestühl, beziehungsweise die gottesdienstliche Gemeinde solle dreiseitig oder in einem offenen Kreis um das Symbol gruppiert werden. Der Prediger sei einzubeziehen in diesen Kreis, mehr oder weniger. Gulbransson wollte auf diese Weise das Empfinden von Nähe und Zusammengehörigkeit der Gemeinde fördern. Und dem natürlichen Verhalten der Menschen entsprechen. Wie Wanderfreunde sich bei einer Rast auf freiem Feld um den Anführer scharen, so solle sich das rastende Gottesvolk sonntags um seinen unsichtbaren Herrn versammeln können. Horchend, bittend, dankend.
Gulbransson gewann den Wettbewerb. Der neuartige kleine Bau machte ihn über Nacht nicht nur in der Fachwelt bekannt. Eine wachsende Zahl evangelischer Gemeinden von Heimatvertriebenen im bayerischen Oberland oder Neubürgern in erweiterten Städten wünschte sich nun eine Kirche von ihm. Der Architekt machte sich selbständig. Im “Kefernest” direkt am Englischen Garten richtete er sein Atelier in lichtdurchfluteten Räumen ein, deren weite Fenster auf den Schwabinger Bach und die grüne Wildnis dort gingen.
19 innovative und individuelle Kirchbauten wurden da konzipiert. Die Gestalt dieser Gebäude – der symmetrische, polygonale oder kreisförmigen Grundriss, die nur zurückhaltend von Fenstern und Eingängen durchbrochenen Wände und die tief herabgezogen Dächer wurden stets aus der gemeindlichen, städtebaulichen oder landschaftlichen Situation herausgefunden. Man sagte, Gulbranssons Kirchen würden an Zelte erinnern. Tatsächlich beabsichtigte er den Eindruck des Vorläufigen, Interimistischen.
Die ursprüngliche Raum-Idee behielt er nach Möglichkeit bei. Allerdings forderten einige Vertreter der Kirche eine andere, nämlich frontale Organisation des liturgischen Raumes. Weil sie es gewohnt waren, die Gemeinde als Gegenüber zu sehen. Und wohl auch, weil sie sich von ihrer eigentlich katholischen Vorstellung eines dem Priester vorbehaltenen Ortes und eines den Laien zugedachten Bereiches nicht trennen wollten. Gerhard Hildmann betonte überraschend die Notwendigkeit eines “heiligen Wegs” im Gotteshaus. Der Architekt musste Kompromisse machen.
Immer wieder kam Gulbransson nach Tutzing. Er hatte die Modelle von Rottach, Manching oder Taufkirchen dabei. Vor allem aber brachte er Sympathie und Verständnis mit. Für jedermann. Er machte nicht viele Worte. War sehr bescheiden. Im Grunde scheu. Sachlichkeit, Gerechtigkeit und die Wertschätzung des anderen lagen ihm am Herzen. Aber auch theologische Anliegen. Beharrlich fragte er nach der Bedeutung der Liturgie oder den Aufgaben des Pfarrers.
Behutsam im Umgang mit historischer Substanz
Es war ein großes Glück, dass die Evangelische Akademie einziehen durfte in das Tutzinger Schloss. Freilich eigneten sich die schlösslichen Räume nicht unbedingt für einen Tagungsbetrieb. Fortwährend beinahe wurden bauliche Maßnahmen nötig.
Als es Mitte der fünfziger Jahre darum ging, den Ostflügel des so genannten Kavaliersbaus mit seinen Stallungen und hohen Speicherräumen abzubrechen und durch einen Neubau mit 22 Einzel- und sechs Doppelzimmern zu ersetzen, bat Hildmann die Kirchenleitung, Olaf Andreas Gulbransson mit der Planung und Leitung dieses Vorhabens zu betrauen. München stimmte zu. Gulbransson wurde Architekt der Akademie. Er achtete die historische Substanz, respektierte die Stimmigkeit des Gegebenen, griff nur behutsam ein.
Nach dem Bau des Gästehauses standen die Erweiterung des Speisesaales und die Neugestaltung der Kapelle im Parterre des Schlosses an. Hinsichtlich der Kapelle schlug der Architekt vor, deren Pseudo-Konche zu beseitigen, um die Schönheit der Tonnendecke zur Geltung zu bringen. Die expressive Garatshausener Christusfigur, die von der katholischen Ortsgemeinde gegen das Schnitzwerk “Maria vom Sieg” eingetauscht worden war, wollte er an einem “schwebenden” Kreuz an die Stirnwand hängen. Diese Stirnwand, meinte er, könne sein Schwabinger Nachbar farblich gestalten, der junge Maler Hubert Distler. Auch könne man überlegen, das untere Drittel der Altarwand zumindest an Festtagen mit einem weißen Leinen zu bekleiden, was dem gestrengen Raum eine gewisse “Freudigkeit” verleihen würde. Der Altar solle die Gestalt eines stabilen Tisches erhalten. Als Antependium könne die Vorderseite einer gotischen Truhe dienen, die kürzlich im Schloss entdeckt worden war.
Es tut Tagungen gut, wenn gelegentlich ein Ortswechsel stattfindet, wenn auf ernste Einheiten musische oder gesellige folgen. Wo aber war im Schloss dafür Platz? Schließlich erweiterte Gulbransson den Flur im oberen Stockwerk. Wo sich ein Badezimmer und sanitäre Räume einstiger Schlossherren breit gemacht hatten, entstand nun eine einladende Diele. Groß genug für etwa 60 Gäste und einen schwarzen Flügel. Die Diele bewährte sich. Gerne kamen Tagungsteilnehmer hier zusammen zu Kabarettdarbietungen oder kammermusikalischen Angeboten.
Innovativ in Tutzing
Mit der Bekanntheit der Akademie wuchs die Zahl ihrer Gäste. Bisher fanden die Vorträge und Diskussionen in einem feinen Gemach mit einer charaktervollen Feuerstelle statt, das zuhinterst im oberen Stock des Schlosses lag und sich zum See hin öffnete. Mehr schlecht als recht konnte bei Bedarf der Vorraum zugeschaltet werden. Ein neuer, geeigneter Vortragssaal wurde notwendig. Mitte der fünfziger Jahre begannen Hildmann und Gulbransson, sich Gedanken über die Platzierung und Gestaltung eines Auditoriums zu machen. Ein Pfahlbau im Seeufer? Ein Pavillon unter den dreizehn Linden? Bald einigten sich die beiden: Das Auditorium soll ein Rundbau werden, der durch ein Foyer südlich an den Musiksaal angeschlossen und durch eine Art Kreuzgang mit dem Schloss verbunden wird. 1958 entstand das Auditorium. Ein konsequenter Rundbau, der sich ohne aufdringliche Attitüde zeitgenössisch gestaltet, in das klassizistische Ambiente einfügt. Ein Meisterwerk Gulbranssons! Auch der Innenraum fasziniert. Vom Foyer her großzügig erschlossen, findet er durch drei gegenüberliegende, eher schmale, hohe Fenster und eine zentrale Glaskuppel seine Belichtung. Elegant ist die geschwungene Decke. Angenehm ist die umlaufende Wandvertäfelung aus Kirschbaum-Holz, die nur ein Bootsbauer in dieser Perfektion herstellen konnte. Und gültig ist das Fresko an der planen Stirnwand des Saales, das wieder Hubert Distler geschaffen hat. Meditativ scheint der Künstler hier diverse Flächen zu einem Ganzen zu ordnen. Grautöne stehen gegen Rottöne. Ein nicht definiertes, aufscheinendes Licht kann an die Mehrschichtigkeit oder Hintergründigkeit des Realen erinnern. Der arenaförmig ansteigende Fußboden ist mit anthrazitfarbenem Spannteppich belegt. Die konzentrischen, in einem Dreiviertelkreis aufgestellten Sitzbänke bieten etwa 120 Gästen Platz. Sie sind behaglich gepolstert und in hellem Steingrau gehalten. Jeder sieht jeden. Jeder hört jeden. Keine Frage, die kommunikative Organisation des Tutzinger Auditoriums aber auch die freiheitliche und zugleich konzentrierende Stimmung des hellen Raumes kommt den Veranstaltungen dort sehr zugute.
Olaf Andreas Gulbransson war Architekt der Evangelischen Akademie Tutzing. Und er war einer ihrer besonderen Freunde. Sie wird sein Diktum nicht vergessen: “Ein Bau soll nicht repräsentieren. Er soll tragen, schützen, sammeln. Er soll selbst das tun, was in ihm geschieht.”
Der Autor, Kirchenrat Pfr. i.R. Andreas Hildmann, war langjähriger Beauftragter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern für Kunst und Künstlerseelsorge. Sein Vater, Kirchenrat Gerhard Hildmann, leitete die Evangelische Akademie Tutzing von 1948 bis 1968.
Bild: Olaf Andreas Gulbransson (Mitte) im Jahr 1950 bei einer Künstlertagung in der Evangelischen Akademie Tutzing. (Foto: eat archiv)