Tagungsbericht: Wo bleibt das “Wir” in der personalisierten Medizin?
Über den Sinn von personalisierter Medizin besteht Einigkeit: Sie wird in der Zukunft eine große Rolle spielen. Durch die Fortschritte in Big Data und Genomik wächst aber auch die Komplexität des Themas. Es gilt nun, gesellschaftliche Verständigungsprozesse und kritische Punkte auszuhandeln. Einen Überblick über Chancen und Risiken bot die Veranstaltung “Wo bleibt das ‘Wir’ in der personalisierten Medizin?” Lesen Sie hier den Tagungsbericht.
Medizin nach Maß soll individuell und präzise gestaltet sein. Sowohl diagnostische als auch therapeutische Verfahren entwickeln sich durch die Fortschritte in Big Data und Genomik rasant weiter. Mit dem Wechsel von einer reaktiven zu einer proaktiven Medizin ergeben sich zahlreiche medizinische, juristische und ethische Fragestellungen: Wie lassen sich neue Techniken in den medizinischen Alltag integrieren? Und wie kann die personalisierte Medizin für eine Medizin für alle werden? Diesen Fragen widmete sich die Dialogreihe “Innovation und Verantwortung”, die als Kooperation von acatech, der Evangelischen Akademie Tutzing und dem Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaft (TTN) an der Ludwig-Maximilians-Universität vom 22. bis 23. März 2021 stattfand (Einzelheiten hier abrufen). Am ersten Tag wechselten Vorträge und Diskussionen im Rahmen einer Fachtagung, am zweiten Tag fand ein Podiumsgespräch im Rahmen von “acatech am Dienstag” statt.
Warum stellen wir uns die Frage nach dem “Wir” in der personalisierten Medizin? Dazu teilte Stephan Schleissing, Leiter des Programmbereichs “Ethik in Technik und Naturwissenschaften” am Institut TTN an der LMU und freier Mitarbeiter der Evangelischen Akademie Tutzing, drei Überlegungen. Zum einen erläuterte er, was unter personalisierter Medizin zu verstehen sei. Der Schwerpunkt liege auf gezielter Prävention, systematischer Diagnostik und dem Einsatz maßgeschneiderter Therapieverfahren. Zum anderen ging Schleissing auf die Kritik an personalisierter Medizin ein, die diese Bezeichnung als irreführend bezeichnet und betonte die soziale Seite der personalisierten Medizin. Anschließend stellte er die Frage nach dem Ort der Thematisierung des “Wir” in der personalisierten Medizin, beispielsweise im Kontext der medizinischen Aufklärung im Rahmen des Arzt-Patienten-Gesprächs.
Der Übergang zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und klinischem Alltag stand im Fokus des Vortrags von Hermann Requardt, ehemaliger CEO des Siemens-Sektors Healthcare und Mitglied im acatech Präsidium. Dabei ging er besonders auf die Frage ein, wie Evidenz im Kontext der personalisierten Medizin geschaffen werde könne. Die Anforderungen an große klinische Studien und deren statistische Auswertung komme im Fall der personalisierten Medizin mit ihren geringen Fallzahlen an ihre Grenzen. Außerdem erläuterte Requardt die ökonomische Seite personalisierter Medizin am Beispiel eines Lungenscreening-Programms in den USA. Zuletzt betonte der Physiker, dass sich alle Akteure auf einen Paradigmenwechseln einstellen müssen. Man müsse sich neuorientieren, weg von klassischen Blockbustern und hin zu individualisierter Behandlung in einem vorsorgeorientierten System.
“Die personalisierte Medizin fordert das Recht heraus”
Der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Leiter der Immundefektambulanz und des Immundiagnostischen Labors Fabian Hauck zeigte in seinem Vortrag die Chancen durch personalisierte Medizin auf. Durch die globale Plattform “Matchmaker Exchange” ließ sich das Genom eines Kleinkindes mit einer seltenen Erkrankung mit anderen Angaben vergleichen. Dies ermöglichte eine präzise Diagnostik der Genmutation und eine kurative Behandlung. In der anschließenden Diskussion betonte Hauck die Notwendigkeit einer naturwissenschaftlichen Ausbildung für Ärztinnen und Ärzte, durch die die Behandelnden molekular denken lernen.
Wie der Einsatz personalisierter Medizin im Rahmen der Vorsorge aussehen kann, erläuterte Veronika Sanin. Die Assistenzärztin am Deutschen Herzzentrum stellte in ihrem Beitrag die Vroni-Studie vor. Diese ermögliche Kindern im Rahmen der U-Untersuchung eine kostenlose Untersuchung auf Familiäre Hypercholesterinämie. Obwohl diese angeborene Stoffwechselerkrankung häufig auftrete, sei sie bisher in Deutschland unterdiagnostiziert. Das Ziel der Studie sei es, das Screening in die Regelversorgung überzuführen. In der Diskussion ging Sanin auf die Hürden eines solchen Vorhabens ein. Neben logistischen Schwierigkeiten gelte es auch über die Erkrankung zu informieren und Vorbehalten gegenüber genetischen Untersuchungen zu begegnen.
Die personalisierte Medizin fordere das Recht heraus, konstatierte Joseph Franz Lindner, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Augsburg. Für verschiedenste Rechtsbereiche ergeben sich neue Fragestellungen: Von der Zulassung der neuen Medikamente (Arzneimittelrecht) bis hin zur Kostenübernahme (Sozialversicherungsrecht). Während der Patient einerseits durch den medizinischen Fortschritt profitieren könne, kann dieser durch die Kollektivierung des Allgemeinwohls potenziell auch instrumentalisiert werden, wenn Daten und Biomaterial verpflichtend gesammelt werden.
Am Nachmittag standen aktuelle Forschungsfragen zu Ethik und Politik der Biomedizin zur Diskussion. Die thematische Einheit wurde von Therese Feiler, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut TTN, moderiert. Lorina Buhr, Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der GAU Göttingen, diskutierte die Frage, ob man die Verwendung von Pandemie-Apps als Gebot der Solidarität fordern darf. Dabei ging sie auf unterschiedliche ethische Bedenken im Kontext solcher Apps ein, besonders, dass die Wirksamkeit dieser bisher nicht bestätigt ist. Aus der ethisch prekären Einschätzung von Pandemie-Apps folgert sie, dass ein Appell nach Solidarität ethisch nicht legitim sei. Kontrovers wurde im Anschluss an den Vortrag die ethische Bewertung von Handeln unter Zeitdruck debattiert.
Oliver Dimbath, Leiter des Instituts für Soziologie an der Universität Koblenz-Landau und Arne Dreßler, beide Permanent Fellows am TTN und Mitarbeiter im Bayerischen Forschungsverbund DigiMed, ergänzten die Tagung mit einem systemtheoretischen Blick auf verschiedene Konfigurationen des “Wir” innerhalb der personalisierten Medizin. In Medizin, Recht und Ethik gelten unterschiedliche Systemlogiken, die zu aufreibenden Verhandlungsprozessen führen.
Proaktives Handeln
Am Dienstag, dem 23. März 2021 wurde die Tagung mit einem öffentlichen Podiumsgespräch im Rahmen der Reihe “acatech am Dienstag” fortgesetzt, das Anna Frey von der Geschäftsstelle acatech moderierte. Zunächst stellte Reiner Anselm, Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie und Ethik an der LMU München und Vorsitzender des Vorstandes des Institut TTN, zentrale Leitfragen für die Diskussion vor. Anselm identifizierte fünf verschiedene Orte des “Wir”: das verwandtschaftliche Wir, das demokratische Wir, das Wir der Population, das Wir des Miteinanders zwischen Kranken und Gesunden, sowie das Wir zwischen den reichen Staaten des Nordens und denen des globalen Südens. All diese Orte bringen ethische Fragestellungen mit sich. So sei beispielsweise das Prinzip der informierten Zustimmung ausgehebelt, wenn durch genetische Untersuchung auch Informationen über Verwandte bekannt würden.
Diese Leitfragen wurden im Anschluss durch drei Personen kommentiert: Bernhard Seidenath, Mitglied des Bayerischen Landtags, Jens Wiehler, Managing Director von DigiMed Bayern und Thomas Wieland, Director International Bioinformatics & Technology bei der Foundation Medicine GmbH. Bernhard Seidenath stellte in seinem Beitrag die momentanen Pläne und Diskussionen innerhalb der bayerischen Politik zu personalisierter Medizin vor und wies auf die vom Freistaat geförderten Projekte DigiMed und DigiOnko hin. Daten seien wie Liebe, erklärte Jens Wiehler. Das Teilen von Daten würde nichts kosten und sollte selbstverständlich werden. Genetische Daten seien nicht anonymisierbar, weshalb es Mechanismen brauche, um gegen Diskriminierung zu schützen. Thomas Wieland erläuterte die Bedeutung von zusätzlichen “Real World”-Daten für die personalisierte Medizin, wie beispielsweise Behandlungsergebnisse. Außerdem müsse thematisiert werden, was es für die Gesellschaft bedeute, dass viele individuelle Therapien sehr teuer seien. Das Podium diskutierte auch Fragen nach der Zukunft der personalisierten Medizin, ihre Hürden und notwendige Rahmenbedingungen. Alle Gäste waren sich einig, dass die personalisierte Medizin eine große Rolle in der Zukunft spielen wird. Dazu brauche es aber gesellschaftliche Verständigungsprozesse, um kritische Punkte auszuhandeln. Anselm betonte dabei, dass es bei genetischen Daten eine Illusion sei, Datenschutz zu garantieren und dies auch klar kommuniziert werden müsse. Neben Aufklärung brauche es deshalb auch Vertrauen. Jens Wiehler wies auf die Notwendigkeit hin, proaktiv in Europa zu handeln, um die Zukunft der Medizin mitgestalten zu können.
In seinem Schlusswort hob Herrmann Requardt die Komplexität des Themas hervor. Die Veranstaltung sei ein weiteres Mosaiksteinchen und leiste so einen Beitrag zu einem großen fachlichen und gesellschaftlichen Dialog über die Chancen und Risiken der personalisierten Medizin.
Ansprechpartner:
Dr. Stephan Schleissing, Institut TTN
PD Dr. Marc-Denis Weitze, acatech
Symbolbild: Adobe Stock