Südwärts, zwischen Idylle und Plage
von Pressestelle × am 12. August 2020Wenn Barbara Vinken von Italien erzählt, spricht sie in Farben, Geschichten und Stimmungen. Ihre Wahlheimat liegt am Comer See, wo goldene Mimosen, das Blau des Sees und das Weiß der Berge den Betrachter sofort in den Bann ziehen. Und doch sei dieser Ort eine „von der Pest traumatisierte Gegend.“ Warum Corona in Norditalien alte Wunden aufgerissen hat, erzählt Barbara Vinken anhand eines literarischen Beispiels.
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Der Hauch des Südens weht in die Akademie, als Barbara Vinken über die Schwelle tritt. Die Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der LMU München „ist aber nicht nur mit den Buchstaben, dem Textum beschäftigt“, wie Studienleiter Dr. Jochen Wagner sein Interview für die RotundeTalk-Reihe einleitet. Nein, Barbara Vinken beschäftigt sich auch „mit dem Textil“ – mit Mode, Genderthemen und vielem mehr – und sie hat ebenfalls ein großes Faible für den Süden, für Italien ganz besonders und am allermeisten für die Gegend rund um den Comer See.
Als sich die Corona-Pandemie ihren Weg nach Europa bahnte, sei sie genau hier gewesen, um in ihrem Garten „Rosen zu schneiden und Unkraut zu jäten“, erzählt sie. Über Freunde und Bekannte erfuhr sie von Corona. Als sie von den ersten Toten hörte und Großveranstaltungen abgesagt wurden, endete für sie der frühe Frühling am Comer See und sie sei froh gewesen, überhaupt noch über die Schweizer Grenze nach Hause gekommen zu sein.
Der Comer See verkörpere für die Menschen diesseits der Alpen den Traum des Südens. Hier öffne sich das Land zu Italien hin. Eine Idylle, über in die Corona hereinbrach wie schon die Pest vor knapp 400 Jahren. Für Italien sei der Comer See emblematisch. Eines der wichtigsten literarischen Werke Italiens, Pflichtlektüre für alle Schüler, spiele hier: Alessandro Manzonis Epos „Die Verlobten“ (Il promessi sposi). Das Buch erzählt von einer der schlimmsten Pesten Italiens, während der ganze Dörfer ausstarben. Den Ortsansässigen habe sich diese Pest ins Gedächtnis eingeschrieben. Noch heute erzählen Pestruinen davon – und in gewisser Weise sei der See von heute noch immer der der „Verlobten“ aus Manzonis Roman, der in den Jahren 1628-1630 spielt.
Damals wurde das Herzogtum Mailand von den Spaniern beherrscht. Die benachbarte Stadt Bergamo gehörte zur Republik Venedig. Zwei junge Leute, Renzo und Lucia, leben in Lecco am Comer See und wollen heiraten. Der örtliche Feudalherr Don Rodrigo aber möchte das verhindern – er selbst hat ein Auge auf Lucia geworfen. Die jungen Menschen müssen aus Lecco fliehen. Im Hintergrund der Geschichte der beiden Verlobten steht die Fremdherrschaft in der Region – sowie die Pest. Beides ist das Joch, unter dem die Einheimischen leben.
Manzoni beschreibe die Pest als „eine Plage, die das gesellschaftliche Band zerreißt“, erzählt Barbara Vinken im Interview. Die Gesellschaft könne der Plage nicht standhalten, denn sie mache den Nächsten jeweils zur Gefahr – so wie es auch die Erfahrungen mit der Corona-Pandemie gezeigt hätten. Man muss also dem Nächsten ausweichen und sich absetzen. Der Andere steht nicht mehr für ein Versprechen von Glück und Nähe, sondern wird zum Feind und zur Bedrohung.
Die Frage sei nun, wie das heilen könne. „Jeder Seuche schreibt man auch eine metaphorische, übertragene Dimension zu.“, so Vinken. Dadurch entstünde aber auch die Möglichkeit zu gesunden.
Eine der schlimmsten Erfahrungen während der Corona-Pandemie sei es gewesen, dass Menschen zum Sterben alleine gelassen wurden – ohne Priester, ohne Familienangehörige. „Eine verstörende Situation“, sagt Barbara Vinken. Diese Art von Tod zerstöre sämtliche Riten und beraube den Menschen der symbolischen Fassung für den Tod.
Aus diesem Grund erlebe sie auch die Säkularisation als problematisch. „Sie verdammt uns zum Leben hier und das ist eine schreckliche Form der Verdammung.“, sagt Barbara Vinken. Sie ist überzeugt: „Es gibt nichts, was die Gemeinschaft mehr trägt als die Kirche.“ Sie sorge dafür, dass man nicht größenwahnsinnig werde, sondern demütig bleibe – und dass man sehe, dass es noch etwas anderes gibt „und zwar zusammen, als Gemeinschaft.“
Dorothea Grass
Das vollständige Interview mit Prof. Dr. Barbara Vinken ist auf dem YouTube-Kanal der Evangelischen Akademie Tutzing (#EATutzing) abrufbar.
RotundeTalk – ausnahmsweise aus dem Musiksaal der Evangelischen Akademie Tutzing. Im Bild: Prof. Fr. Barbara Vinken und Dr. Jochen Wagner (Foto: ma/eat archiv).