Spaenle: „Die Fratze des Antisemitismus zeigt sich neu“
Es gilt das gesprochene Wort!
Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing
Begrüßung zur Kanzelrede am 28. Oktober 2018, 11.30 Uhr
Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Gäste,
als Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing ist es mir eine große Freude, Sie heute zu unserer Kanzelrede begrüßen zu dürfen. Mein Name ist Udo Hahn. Herzlich willkommen heiße ich Sie auch im Namen von Brigitte Grande, der Vorsitzenden des Freundeskreises der Evangelischen Akademie Tutzing. Beide, Akademie und Freundeskreis, veranstalten gemeinsam die Kanzelrede und laden dazu zweimal im Jahr in die Erlöserkirche an der Münchner Freiheit in München-Schwabing ein.
Die Kanzelrede ist seit 1997 ein viel beachtetes Format unserer Arbeit. An dieser Stelle haben u.a. schon Joachim Gauck, Gesine Schwan, Heribert Prantl, Christian Stückl, Harald Lesch, Christian Springer und Charlotte Knobloch gesprochen. Und jetzt: Staatsminister a.D. Dr. Ludwig Spaenle. Schön, dass Sie bei uns sind!
Ich darf Ihnen den heutigen Kanzelredner kurz vorstellen: geboren 1961 in München, Studium der Geschichte und der Katholischen Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Promotion zum Dr. der Philosophie, ab 1990 Fernsehredakteur beim Bayerischen Rundfunk, von 1994 bis jetzt Mitglied des Bayerischen Landtags, 2008 bis 2018 Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus, 2013 bis 2018 Bayerischer Staatsminister für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst. Seit 14. Mai 2018 Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für Jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe. In dieser Funktion haben wir Dr. Spaenle eingeladen. Eine Funktion, die im Bund, in anderen Bundesländern und auch in Bayern neu eingerichtet wurde. Und im Freistaat mit Ludwig Spaenle eine außerordentlich kraftvolle Stimme bekommen hat. Dabei ist Antisemitismus kein neues Phänomen – nicht in Deutschland und auch nicht in anderen Ländern, wie etwa in den USA, wo gestern bei einem Massaker in einer Synagoge in Pittsburgh elf Menschen ermordet und sechs weitere verletzt wurden.
Neu ist aber, dass sich der Antisemitismus inzwischen wieder im Alltag breit gemacht hat. Diese Beobachtung gründet nicht auf Vermutungen. Vielmehr gibt es handfeste Belege. So hat sich in den letzten Tagen hier zu Lande an einer Stand-Up-Einlage des Satirikers Jan Böhmermann eine Debatte entzündet, die dies beispielhaft zeigt. In seinem Buch „Gegen Judenhass“ schildert der Komiker Oliver Polak eine Szene, wie er in Böhmermanns Show von der Bühne verabschiedet wurde. Nach seinem Abgang von der Bühne sprang Böhmermann mit einem Desinfizierungsmittel herum und fragte, wer dem Juden Polak alles die Hand gegeben habe. Wer jetzt denkt, den Gag wird man ja wohl machen dürfen, dem halte ich in aller Entschiedenheit entgegen: Nein, eben nicht!
Dass es unverbesserliche Antisemiten in unserer Gesellschaft gibt, damit haben wir mühsam zu leben gelernt. Dass Judenhass von Menschen unterstützt wird, die aus dem Nahen und Mittleren Osten kommen und damit ihr Leben lang indoktriniert wurden, gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dass wir uns an einen Alltagsantisemitismus in der Mitte unserer Gesellschaft gewöhnen, davor müssen wir uns alle miteinander hüten.
Matthias Drobinski hat es in der Süddeutschen Zeitung gerade auf den Punkt gebracht: „Der Antisemitismus ist tief ins kollektive Unterbewusstsein gegraben, zu tief, um einfach wegerzogen werden zu können; Aufklärung und Demokratisierung haben ihn zum Glück in den Keller des Unsagbaren und Skandalösen gedrängt. Dort aber lebt er weiter, sprungbereit; er kann bekämpft und doch nie wirklich besiegt werden.“
Ich verstehe diese Zeilen nicht als Kapitulation, sondern als Bekräftigung des Auftrags, der sich aus der Erfahrung des Nationalsozialismus dauerhaft ergibt: Verantwortung dafür zu übernehmen und Zivilcourage zu zeigen, dass „nie wieder“ geschieht, was zum größten Zivilisationsbruch in der Geschichte des 20. Jahrhunderts führte.
Nie wieder – dieser Mahnruf hat z. B. evangelische Akademien in Deutschland entstehen lassen. Als Diskurs-Orte, an denen die unterschiedlichen Kräfte, die unsere Zivil- und Bürgergesellschaft prägen, um Lösungen wichtiger Fragen ringen. Als Orte der Toleranz und der Zivilcourage. Wissen und Bildung machen es möglich, tolerant zu sein und Zivilcourage an den Tag zu legen, mutig Vorurteilen entgegen zu treten. Diese sind – beklagenswert genug – auch unter Christinnen und Christen gegenüber dem Judentum nach wie vor weit verbreitet.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat in ihren drei Studien unter dem Titel „Christen und Juden“ 1975, 1991 und 2000 einen wichtigen Beitrag zur Klärung zentraler Fragen geleistet. In der 3. Studie, an deren Erarbeitung ich mitwirken durfte, wird als Konsens festgehalten:
· Die Absage an den Antisemitismus
· Das Eingeständnis christlicher Mitverantwortung und Schuld am Holocaust
· Die Erkenntnis der unlösbaren Verbindung des christlichen Glaubens mit dem Judentum
· Die Anerkennung der bleibenden Erwählung Israels als Gottes Volk
· Die Bejahung des Staates Israel
Dass diese Haltung noch nicht bei allen Mitgliedern angekommen ist, macht die Größe dieser Aufgabe deutlich.
Wir dürfen den Feinden einer offenen Gesellschaft nicht das Feld überlassen. Schweigen, wegsehen – das können wir uns nicht bzw. nicht mehr leisten. Helfen Sie bitte mit, sehr geehrte Damen und Herren, dass wir alle verfügbaren Kräfte mobilisieren und Überzeugungsarbeit leisten. Das ist auch die Aufgabe des Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für Jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe. Seine Kanzelrede stellt Ludwig Spaenle unter ein Zitat des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, der im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet wurde: „Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen“, hatte Bonhoeffer seine Haltung im Dritten Reich unmissverständlich formuliert. Der heutige Kanzelredner verbindet das Bonhoeffer-Zitat mit einem Plädoyer „für eine Kultur des Hinschauens“.
Ehe Dr. Spaenle gleich das Wort ergreift, möchte ich noch dem Kirchenvorstand der Erlöserkirche zusammen mit Pfarrer Gerson Rabe sehr herzlich danken, dass wir hier zu Gast sein dürfen. Die nächste Kanzelrede hält Peter Küspert, Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes und des Oberlandesgerichts München – und zwar am 10. März. Wenn Sie eine persönliche Einladung erhalten möchten, teilen Sie uns dies bitte mit. Jetzt hat Ludwig Spaenle das Wort. Vielen Dank, dass Sie uns mit Ihrem Vortrag herausfordern und ermutigen werden!