„Seien Sie getrost, es gibt immer eine Alternative!“
Am Freitag verstarb die große Philosophin Agnes Heller. Noch im vergangenen Oktober war sie Gast gewesen an der Evangelischen Akademie Tutzing. Auf der „Happy Birthday, Marx!“-Tagung hatte sie über Marx’sche Philosophie gesprochen. Studienleiter Dr. Jochen Wagner erinnert in diesem Text sowohl an diese Begegnung als auch an eine außergewöhnliche Persönlichkeit.
… und dann kam nicht Powerpoint, sondern Acousticpoint, wie Agnes Heller mit energischer Stimme „Karl Marx als Philosoph“ skizzierte. Happy Birthday, Marx hieß unsere Tagung zum 200. Geburtstag des Philosophen und Ökonomen im Oktober 2018. Agnes Heller hatte quasi das Schlusswort zum Sonntag. Zunehmend nicht mehr selbstverständlich, war sie schon am Freitagmittag in München aus Budapest, oder muss man sagen, nach New York und Ravenna, meine ich, mit kurzem Zwischenstopp zuhause, angekommen. Hellwach, neugierig, diskussionsfreudig von Anfang an imponierte die zierliche Frau mit einer unglaublichen Präsenz. Sie war ja erst „89 ½“, diese vor Kraft zum und Lust am Denken sprühende fille de sophie. Und so war ihre Performance, nein, ihre Erscheinung, das leibhafte Aufscheinen philosophischer Existenz.
Dogmatische Orthodoxie war ihres nicht. Jeder Satz, jede Geste, nie bar leidenschaftlicher Mimik, warb mit dem Sound emanzipatorischer Sinnlichkeit für das bleibend alternativlose Projekt der Aufklärung: selber denken, ausziehen aus der selbst- wie unverschuldeten Unmündigkeit. So entfaltete, zeichnete, profilierte Agnes Heller ihren Karl Marx, ethisch von Immanuel Kant unterfüttert, den für sie wichtigsten Moralphilosophen, geschichtsphilosophisch von Hegel motiviert, demzufolge man der Dialektik der Geschichte mehr zutrauen dürfe als alle vermeintlichen derzeitigen Erstarrungen erlauben. Natürlich hat sie dabei ihre Kritik an Ungarns Diktator-Ministerpräsident Viktor Orbán eingestreut, die neue uralte mit Gewalt zündelnde Attraktivität der Neofaschismen, Nationalismen und populistischen Hetzer angeprangert, die Megalomanien der Mächtigen aus USA, China, Russland, Türkei usw. als komplementäre Illusion zu den Bedürftigen der schwarz-weiß Malereien gegeißelt, diese Verführung zum alle Komplexität simpel reduzierbaren Freund-Feind-Schema und den aufkommenden Jubel als unheilvolles Symptom fixiert, wenn ein paar Obere den Unteren versprechen, an ihrer statt zu denken, handeln, durchzugreifen, also die Menschen gemeiniglich zu entmündigen. Dumm und roh werden sind zwar Wundmale, aber ein bequemer Habitus, wie überhaupt Propaganda nicht wehtun muss, Entfremdung sogar Spaß machen kann.
Ihr Parforceritt, evident mehr von Leidenschaft statt strengem Konzept getragen, warf noch einmal Blitzlichter auf die großen Fragen: Klassenkampf und Proletarier, Technik und Zurückweichen der Naturschranke, Universalismus der Warenform und Boom des Authentischen, Ideologie, Masse, Macht und Medien, Hedonismus und Märchen vom Urlaubsidyll, Ausbeutung der Natur versus Reichtum hie und Verelendung dort, die Antinomien der Moderne und, ja, die in der Spiritualität zu Recht, aber entstellten, zur Kompensation des falschen Lebens im Käfig, affirmativen Fragen nach dem guten Leben. Ob der Kapitalismus nun ein Potenzial zur Selbstregulierung, zum Runterbremsen seiner gewaltigen instrumentellen Hightechpotenz habe oder wir mit ihm trotz Wissenschaft und Nachhaltigkeit an die Wand fahren, also apokalyptisch auf einen spekulativen Karfreitag der entfesselten Moderne unterwegs sind? Ja, gut möglich, solange uns der Konsum, jene aus religiöser Vertröstung und merkantiler Homilie generierte Opulenz wichtiger seien als Gerechtigkeit, lebendige, erfüllende Arbeit, Demokratisierung der Produktionsverhältnisse. Was meint denn Triebstruktur und Gesellschaft, wenn wir Marken anhimmeln und dem Fetischcharakter so vieler Waren frönen, schlechtes Gewissen inklusive? Warum verleiben wir uns so oft Dogma, die vorgeschriebene Wahrheit, und Konsum, die vorgefertigte Ware, in Andacht und Gehorsam ein, statt eben z.B. lieber die Feuerbach-Thesen zu lesen, mit Nietzsche gegen Nietzsche zu streiten, mal aus der Reihe zu tanzen, statt widerstandslos mitzutun im wimmelnden Getriebe oder ehernen Gehäuse, also, mit eigenen Worten: Oktoberfest, ganzjährig?
Escape, auch wenn dir der Käfig hinterherhetzt
So hat Agnes Heller im goldenen Oktober zu Tutzing den Wecker gestellt und ihn läuten lassen. Klar, das hat an Rilkes Panther erinnert, aber Agnes Heller schien auch den Tiger in Gertrud Kolmars Trauerspiel zu kennen: hinter tausend Stäben keine Welt, kein Wille mehr zum Escape? Von wegen, so Frau Professorin Heller, es gibt immer eine Alternative: Der Tiger sprengt, entflieht dem Käfig, allein, der Käfig hetzt ihm hinterher, ohne Gefangene seines Wesens spürbar entfremdet. Mit jeder Nuance ihrer Reflexion war zu spüren, dass Agnes Heller, wie Benjamin einmal nach Baudelaire formulierte, auf die Sensation der Praxis aus war: l’action est la soeur du rêve – die Tat ist die Schwester des Traums. Doch woher nahm sie die Kraft? Woher gemäß der Kant‘schen Maxime die Pflicht zur Zuversicht?
Von jungen Leuten gefragt, ob sie oder warum sie keine Angst habe, verwies sie auf deren schlechte, lähmende, demotivierende, erpressbar machende Wirkung. Man müsse nach Hegel’scher Manier versuchen, aus diffuser Angst vor Unbestimmtem wenigstens konkrete Furcht vor Bestimmtem zu machen. Das gehört auch zum Fokus ihrer vorletzten Schrift Eine kurze Geschichte meiner Philosophie (2017). Zudem kämen einem bei der Arbeit des Begriffs, den namenlosen Umtrieben der Furcht Gesicht und Stimme zu geben, inmitten allem Schlimmen immer auch Tragisches, Komisches, die unsterbliche Komödie und Humor, Kunst und Literatur zu Hilfe, wie sie in ihrem letzten Buch 2018 schreibt. Agnes Heller ist in ihrem Temperament. Sie wirbt fürs Dennoch, trotzdem Weitermachen, impulsiv, nicht so prosaisch, lyrisch, narrativ wie der Ernst Bloch vom Prinzip Hoffnung, wo einen das Lesen auch erbaulich beruhigen kann. Nein, sie macht, schier wie im Jazz Pulse Drive Groove spürbar und setzt wie ihr Lehrer Georg Lukács auf zivilgesellschaftliches, politisches Engagement. Wieder kommt ihr kleines Manifest, „es gibt immer eine Alternative“.
Keine Kultur ohne Barbarei
Dabei, Agnes Heller muss es wissen, ist es ein Wunder, dass sie 90 Jahre alt wurde. 1929 in Budapest geboren, in einer behüteten Kindheit im jüdischen Elternhaus aufgewachsen, sorgte ihr Vater mitten im Nazi-Terror des Zweiten Weltkriegs für die Ausreise vieler Juden aus Ungarn. Sie und ihre Mutter entgingen 1944 den faschistischen Pfeilkreuzlern in Ungarn als auch den Massenexekutionen am Donauufer von Budapest – traumatisch blieben daher Donauufer und Todesangst für Agnes Heller lange verschmolzen. Das Wasser, Lebenselixier, Urflut, Strudel – wie nicht ertrinken? Obenauf schwimmen? Ihr Vater wird, wie viele andere Verwandte, deportiert und in Auschwitz ermordet.
Nach Kriegsende studiert sie zunächst Physik und Chemie. Doch als sie den marxistischen Philosophen Georg Lukács hört, studiert sie Philosophie, promoviert bei ihm, freilich nicht, wie er wollte über Ethik bei Lenin, sondern Bedürfnisse und Gefühle, und arbeitet als seine Assistentin. Aus erster Ehe hat sie eine Tochter, aus zweiter Ehe mit dem Literaturkritiker und Philosophen Ferenc Fehér einen Sohn. Sie erleben auch den von der russischen Armee beendeten Prager Frühling 1968. Jahrzehntelang in Ungarn unterdrückt, zum Philosophie-Kongress 1973/74 in Ungarn als konterrevolutionär und rechtsabweichlerisch auf den Index gesetzt und wiederholt einer Treibjagd durch Bespitzelung, Hausdurchsuchung, Wanzen ausgesetzt, emigrierte Agnes Heller 1977 mit ihrem Mann nach Australien. Von 1978 bis 1986 wirkte sie auf einer Soziologie-Professur an der La Trobe Universität in Melbourne. Im gleichen Jahr wurde sie von der New School for Social Research in New York als Nachfolgerin auf den Lehrstuhl von Hannah Arendt berufen.
Emeritiert kannte sie nur den Unruhestand. Nach der demokratischen Wende 1989 kehrte sie zurück nach Ungarn. Seither pendelte sie zwischen New York und Budapest, war 2001 und 2002 Fellow des Weimarer Kollegs Friedrich Nietzsche zum Thema Zur Theorie der Moderne und arbeitete vielfach als Gastprofessorin. Zeitlebens und so auch bis zuletzt in Ungarn stritt und philosophierte sie gegen jedweden Totalitarismus, wie sie auch den sogenannten real existierenden Sozialismus nach dem ungarischen Volksaufstand 1956, von der sowjetischen Armee niedergeschlagen, in Frage stellte und zur Dissidentin wurde, Dass Despoten, Diktatoren, Tyrannen es schafften, vom Volk sogar geliebt zu werden, schrieb sie der unheilbaren Sehnsucht nach Vaterfiguren zu, „die unsere Sorgen auf sich nehmen, für uns entscheiden und statt uns denken. Und er sagt, was wir denken sollen, was wir tun sollen, und dann ist alles in Ordnung.“ (www.tagesschau.de, 20.07.2019) .
Kraft der Frauen
Ja, es war ein Geschenk, Agnes Heller zu erleben. Schon ihre Schriften atmeten nicht zufällig die von Hannah Arendt, gleichviel wohl auch von Simone de Beauvoir favorisierte Kraft der Frauen für eine vita activa gegenüber einer vita passiva. Bei Agnes Heller zeugen Alltag und Geschichte (1970), Theorie der Bedürfnisse nach Marx (1976), Philosophie des linken Radikalismus (1978), Theorie der Gefühle (1980), Der Mensch der Renaissance (1988), Ist die Moderne lebensfähig? (1995), Ein Essay über die Schönheit der Freundschaft (1996) … wie Die Auferstehung des jüdischen Jesus (2002), Die Zeit ist aus den Fugen (2002) als auch die beiden genannten jüngsten Bücher von der unermüdlichen Passion, Freiheit und Herzenshöflichkeit, den Furor der unerbittlichen Reflexion mit der cortesia, das moderne Projekt der Aufklärung mit einem Minimalprogramm des Humanums zu verbinden. Das klingt vielleicht mehr nach strengem, alteuropäischem Format eines akademischen Habitus. Doch wegen der, auch ohne Eingedenken der Wunden und Narben einer durch NS-Barbarei schmerzlichen Lebensgeschichte, schwierigen Selbsterhaltung mangels akademischer Karriere – sie arbeitete auch als Lehrerin – war sie existenziell gezwungen, Wissenschaft und Alltag kurzzuschließen. So überraschte es nicht, dass sie, ohne nun ungebührlich aus dem Nähkästchen zu plaudern, am Samstagnachmittag sich eine Auszeit nahm, in der Manier souveränen Geistes: Freundschaft geht vor, und verschwand mit Jürgen und Ute Habermas, nach den beiden etwas jüngeren Lebensgenossinnen schauend, denn auf die Tutzinger Ilkahöhe. Von dort ist sie wieder zurückgekehrt. Heiter, auch wenn sie gegenüber Habermasens Priorität der Gerechtigkeit an ihrer auf Freiheit festhielt. Freundschaft hebe die Differenzen ja nicht auf, sondern mache sie lebendig, so etwa in beider Einsatz für die global singuläre Idee, das Paradox Europa.
Theorie ist Praxis
So gab es für das Energiebündel Agnes Heller dankbaren und herzlichen Applaus. Verkörpert sie ja in ihrem Leben nicht weniger als den Weg vom Wahnwitz des Eigendünkels zum Gesetz des Herzens, wie Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes den Prozess der Entäußerung des Ichs zielführend ambitioniert. Agnes Heller war Philosophin durch und durch, aber auch eine Liebhaberin der Musik – den Jazz in der Schlossdiele genießend – und des Tanzes, sowie sie, man staune, auch ihren Pflichten als Fußballfan nach kam. So war ihr zutiefst vertraut, dass es nach welchem Spiel auch immer keine Reset-Taste gibt. Gewonnen ist gewonnen, verloren bleibt verloren, verschossen verschossen und Foul eben Foul. Auf ewig? Kaum jemand hat sich die transzendentale Obdachlosigkeit so schonungslos denken getraut wie ihr Lehrer und Doktorvater Georg Lukács in seiner Theorie des Romans vor über 100 Jahren.
Seither ist die Zeit aus den Fugen, was aber heißt das für die unschuldigen Opfer? Ist der Himmel leer, ist die Welt eine ausweglose Immanenz. Die Täter bleiben auf ewig Täter, die Opfer auf ewig Opfer. Ist das lebbar, auszuhalten? Kein Trost? Null Happyend? Ja, sie verstehe, warum Walter Benjamin darauf poche, dass der Messias einmal kommen muss um alles Kaputtgemachte zu heilen. Doch mute uns das Denken den Verzicht auf einen religiösen, metaphysischen Trost zu. Man mag das verwundbare Sein des winzigen Menschen ohne absolute Gewissheit (certitudo) oder Sicherheit (securitas) ein schwaches Denken, ein pensiero debole (Gianni Vattimo) nennen. Agnes Heller hatte die Kraft dazu. So ist es einmal mehr nach Marx, Freud, Einstein, Arendt … eine jüdische Stimme mit revolutionärer Botschaft: Es gibt immer eine Alternative?
Wenn ihre Haltung mit Walter Benjamin Von Ehre ohne Ruhm / Größe ohne Glanz / Würde ohne Sold erzählt, dann wäre ihr das gewiss zu viel Pathos gewesen. Aufmerksamkeit als natürliches Gebet der Seele, das war ihr sympathischer, charmant dem Alltag zugewandt, wo doch der nächste Augenblick völlig offen sei. Wie das geballte Glück des Spiels, worin der Homo ludens sich als Poet, als Macher der Zufälle übt. Wollte sie zuletzt wenigstens Koautorin der letzten todsicheren Kontingenz, des finalen Zufalls sein? Vergangenen Freitagabend ist Agnes Heller, im Mai 90 Jahre alt geworden, im Urlaub im Plattensee hinaus geschwommen ins Offene. Sie kehrte nicht zurück.
Jochen Wagner
Bild: Agnes Heller mit Ludwig Reichart – einem weiteren Referenten der Marx-Tagung – im Oktober 2018 an der Evangelischen Akademie Tutzing. (Foto: Wagner/eat archiv)