Reformation & Russische Revolution und ihre Erben: Wie Kirche und Welt verändert wurden
Reformation 1517, Revolution 1917, Transformation bzw. was wir von den großen Umwälzungen 2017ff erben? Billiger als mit dem aus den Jahreszahlen geschöpften Erkenntnisinteresse an der Genesis der globalisierten Welt dürfte ein Verständnis der Gegenwart, gar eine Witterung fürs Kommende, jedenfalls für den europäischen Kontext nicht zu haben sein. Religion ist politisch und Politik ist religiös. Das war die in ihrer Simplizität bestechende Formel, auf die sich die über 70 Gäste und Referierenden der Tagung in Lutherstadt Wittenberg verständigten – nach zweieinhalb Tagen (13.-15. Oktober 2017), die randvoll waren mit neuen Erkenntnissen, spannenden Debatten und einem Perspektivenreichtum, wie ihn nur Interdisziplinarität hervorbringen kann: Wenn Theologie und Geschichte, wenn Politik- und Kulturwissenschaften miteinander in den Dialog treten, dann bekommt der kühne Bogen, der sich über die Jahre 1517, 1917 und 2017 streckte, eine Basis. Wie sich der reformatorische Martin Luther vom dogmatischen Diktat der Papstkirche und zugleich der rebellische Thomas Müntzer von politischer Unterdrückung zu emanzipieren suchten, wie sich – die Französische Revolution 1789 mit der Formulierung der „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ mitgelesen – die mit der Figur Lenin personalisierte Oktoberrevolution 1917 von der Zarenherrschaft samt der Macht der klerikalen Orthodoxie zu befreien suchte, und dass in diesen 500 Jahren nicht nur die Entdeckung des mündigen Ichs, der Prozess der Aufklärung und die Geburt des Kapitalismus (aus dem Geist des Protestantismus) anhoben, das machte die Komplexität des Tagungsgegenstandes aus.
Den Auftakt bildete Luthers Reformation vor 500 Jahren, die Mathias Eichhorn als eminent politisch beschrieb. Unter die Verfestigung der Territorialherrschaften und in das Ringen der jeweiligen Landesherren um Macht legte die Reformation die geistige Basis zur Anerkennung weltlicher Herrschaft. Dazu kam, wie die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun Schritt für Schritt von den ersten Alphabeten bis zur Vollendung einer Schrift als revolutionäres Zeichensystem entfaltete, dass sich aller menschliche Austausch von Ort und Zeit und Kontext, d.h. von der leibhaften, materialen Kommunikation lösen ließ. Dass der Mensch nur aus Glauben – sola fide als weiterer Exklusivartikel neben solus Christus, sola gratia, sola scriptura – coram Deo gerechtfertigt sei, beschrieb Eichhorn als „Anerkenntnis“, die er von den Heilsgewissheiten, die oftmals auch in rein pekuniärer Absicht von der Kirche „verkauft“ worden waren, abhob. Gott ist nicht käuflich. So absurd uns der Ablasshandel heute erscheint, nannte ihn Christina von Braun an späterer Stelle doch eine Ausprägung der in die Moderne führenden Geldwirtschaft, die alles in Warenförmigkeit übersetzte.
Aber, so etwa fragte Müntzers leidenschaftlicher Gegenentwurf, den Siegfried Bräuer und Günter Vogler engagiert darstellten, verändert denn die religiöse Heilsgewissheit in der innerlichen Gottesbeziehung auch die äußeren Macht- und Unterdrückungskonstellationen? Oder verkommt der emphatische Protestantismus letztlich nur zum seelsorgerlichen Trost, gar zur Vertröstung, statt zum Einspruch? Auch wenn Müntzer nicht anders als seine französischen Nachfolger Opfer der revolutionären Gewalt wurde, knüpfte dann doch „der zweite Held“ der Tagung an die Dimension der radikalen Veränderung, ja Umwälzung der inzwischen industriellen Massengesellschaft an: Karl Marx, dessen „Kapital“ in diesem Jahr seinen 150ten Geburtstag feiert. Michael Quante ließ ihm fast eine Art Rehabilitierung zuteilwerden, indem er zum Perspektivenwechsel aufforderte. Nicht als ökonomische Theorie solle man den Marxismus lesen, sondern als eine auf die ganze Gesellschaft zielende Philosophie, die immer noch viele Anhaltspunkte liefern könne, wie wir auch global gesehen zu einer gerechteren Gesellschaft kommen. Wenn auch Luthers 95 Thesen die heilsame Verwandlung des Menschen zum neuen Sein von innen nach außen, und dazu quer gelesen Marxens Feuerbachthesen von der Erneuerung des gesellschaftlichen Seins, gleichsam von außen nach innen, auf die des Menschen abzielen, so deutet sich doch nicht nur eine Konkurrenz, sondern eine Koalition an. Die sakrale Ordnung der Erlösung und die profane Ordnung des Glücks haben eine gemeinsame Ursprungsmotivation: eine gerechtere Welt, in der die Menschen frei und chancengleich sich aus dem Elend und der knechtenden Entfremdung erheben und alle zur Teilhabe am mannigfaltigen Reichtum der Welt gelangen sollten.
Diese Urmotive der emanzipatorischen Dynamiken gingen in den Machtkämpfen der Oktoberrevolution – von Franziska Schedewie anschaulich geschildert – und vieler folgender Revolutionen leider allzu schnell unter, so dass wir 2017 nicht viel weiter sind als in der Welt von 1917, die uns Jörn Leonhard so facettenreich beschrieb: als symbolisches Datum ballten sich in „1917“ die Erosion der feudalen, kaiserlichen Welt traditioneller Außenvergewisserung über Kirche, Stände, Moral und die modernen Innovationen bürgerlichen Wohlstands, individuelle Freiheit, Mode, Sport, Varieté, Tanz, Musik, gesellschaftliche Spektakel zusammen – um sogleich im Ersten Weltkrieg als durch modernste Waffen nie gekannter Zerstörung unterzugehen. Krieg als Katharsis der bürgerlichen Dekadenz, wie manche Apokalyptiker in Kunst, Dichtung, Literatur meinten? Kriege jedenfalls allenthalben, verbunden mit Heilserwartungen und gleichviel Entzauberungen. Denn wie das von der Reformation (wie von der Renaissance) angeschobene Projekt der Aufklärung, wie den revolutionären, technischen Kapitalismus und die säkulare Moderne zurückschrauben? Und wenn gar der Himmel leer sein sollte, könnte die erstmals entfesselte Warengesellschaft das metaphysische Vakuum profan füllen? Woher Halt nehmen in einer Tempo aufnehmenden Welt, die zwar immer mehr Freiheiten und Erlebnisoptionen verheißt, aber weder Sicherheit (securitas) noch Gewissheit (certitudo) bietet? Erste globale Erschütterungen und gleichviel rivalisierende Utopien erzeugen ein Panorama von neokonservativer Regression, verlorenem Krieg hierzulande und der Wunde, der Schmach, der Schande, zunächst kurzer jubilatorischer Demokratie und dann ver-meintlich gottgesandter totalitärer Hoffnung. Wo Religion wie Politik mit der Signatur von Gewalt einhergingen, so zeigte Rainer Karlitschek kompetent, waren etwa die schönen Künste gefragt, einer „transzendental obdachlosen Welt“ in Form von „Kunst-Religion“, so etwa Richard Wagners Revolutionsschrift oder Hans Pfitzners Oper Palestrina (1917 in München erstaufgeführt), einen alles Sinnlose und Sinnleere transzendierenden Sinn zu stiften.
Nicht zuletzt mit solchen Fragen nach Orientierung, Halt, Geborgenheit werden die Erwartungen an Religion und Politik auch heute virulent: Leben wir nicht auch an einer Epochen-schwelle, in einer Sattelzeit, kaum wissend, extrem taumelnd, Analphabeten der Zukunft, wenn wir das Stichwort „digitale Revolution“ als postheroische Umwälzung „ohne Helden“ erwarten, gestalten, erleiden? Wir sollten ihre Instrumente zu spielen lernen, warnte Referent Richard Gutjahr, denn Faktum ist sie bereits.
Bei so viel intensiver Reflexion darf nicht unerwähnt bleiben, dass insbesondere das historische Wittenberg als anmutige Sensation in Flanerie, Geselligkeit, Muße und kaum Verkehr zu gefallen wusste. Einen Abend, gestaltet mit Originaltexten „rund um Luther“ trug die Schauspielerin Jovita Dermota bei, und einen weiteren Friedrich Kramer und Alf Christophersen mit einer Nachbetrachtung der öffentlichkeitswirksamen und weniger auffälligen Effekte des Jubiläumsjahrs zur Reformation. Schließlich knüpften die Andachten und kleinen liturgischen Formate verbindende und berührende Bande, wo die zweieinhalb Tage sonst nicht ausreichten, um das Unähnliche zusammen zu bringen.
Ulrike Haerendel und Jochen Wagner