“Radikalisierung der Besser- und Überwisser”

Die ZDF-Satiresendung “Die Anstalt” befasste sich in ihrer Ausgabe vom 7. Dezember 2021 mit den kaum zu vereinenden Perspektiven auf die Corona-Schutzimpfung, der gesellschaftlichen Spaltung, die daraus resultiert, und dem Vertrauensverlust in evidenzbasierte Medizin. Akademiedirektor Udo Hahn diskutierte mit Dietrich Krauß, einem der Autoren der “Anstalt”, und mit dem Esoterik-Experten Kirchenrat Matthias Pöhlmann über das Phänomen Impfverweigerung, die Rolle der Anthroposophie und über die Gefahr für die Demokratie, die vom radikalen Teil der Impfgegner ausgeht.

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 Der Impfstatus ist im vergangenen Jahr in Deutschland zur Gretchenfrage geworden, eine hochemotionale Debatte über den richtigen Umgang mit der Pandemie beschäftigt das Land schon seit ihrem Beginn. In welchem Zusammenhang diese Diskussionen mit dem Phänomen sogenannter alternativer Wissenschaften steht, und was der zunehmenden Wissenschaftsskepsis entgegnet werden kann, diskutierte Akademiedirektor Udo Hahn mit dem Sekten- und Weltanschauungsbeauftragten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Pfr. Dr. Matthias Pöhlmann, und mit Dr. Dietrich Krauß, Politikwissenschaftler und Mitautor der Sendung “Die Anstalt” in einer Online-Diskussion am 15. Dezember 2021.

Mit dem Verweis auf die untrennbare Verflechtung von Freiheit und Verantwortung leitete Udo Hahn das Gespräch über Impfskepsis, Anthroposophie und Pseudowissenschaft ein. Dietrich Krauß sieht in der Geisteshaltung vieler Impfgegner, nach der sie selbst es besser wüssten als Staat und Wissenschaft, eine “verrückte und beängstigende” Entwicklung. Der Schaden, den Esoterik und “alternative Wissenschaften” anrichteten, lasse sich in der Eigenwahrnehmung von Impfgegnern ablesen, so Krauß. Sie selbst würden sich nicht als unvernünftige Egoisten wahrnehmen. Ferner drehten und wendeten sie diese Realität, oder leugneten sie gar gänzlich, sodass ihr Verhalten vertretbar erscheine.

Esoterik-Kenner Matthias Pöhlmann berichtet von seinen Besuchen auf Querdenker-Demos, auf denen er einem “kollektiven Narzissmus” begegnet sei – das “Ich” würde auf solchen Veranstaltungen immer sehr groß geschrieben. Es sei eine “Radikalisierung der Besser- und Überwisser” zu beobachten, bis hin zu beängstigender Rache-Rhetorik von “Nürnberg 2.0”, in Anspielung auf die Prozesse gegen NS-Kriegsverbrecher, und Mordkomplotten gegenüber einzelnen Ministerpräsidenten. All das sei “höchst bedenklich”.

Vertrauen in Wissenschaft häufig geringer, als in das eigene Gefühl

Es stelle sich unweigerlich die Frage nach der gesellschaftlichen Spaltung. Dietrich Krauß plädiert jedoch dafür, den Begriff mit Vorsicht zu verwenden. Schließlich sei nicht jede Meinungsverschiedenheit ein Problem für den sozialen Frieden. In der Pandemie jedoch, und beim Impfen ganz besonders, sei der Konsens notwendig, um dem Sachproblem begegnen zu können. Offensichtlich überfordere dieser Umstand unsere Gesellschaft.

Mit Blick auf andere Länder in Europa, insbesondere Spanien und Portugal, warf Udo Hahn im Online-Gespräch mit seinen beiden Gästen die Frage auf, wie deren großer Impferfolg im Vergleich mit Deutschland zu erklären ist. Matthias Pöhlmann verweist auf die große Impfsolidarität in diesen Staaten und benennt alternative Weltanschauungen, Impfträgheit und grundsätzliches Misstrauen in Staat und Wissenschaft als Haupttreiber der niedrigen Impfquote in Deutschland. Zudem sei in Deutschland das Vertrauen in Wissenschaft häufig geringer, als in das eigene Gefühl. Dietrich Krauß fügt hinzu, dass der wachsende Individualismus in Deutschland dazu geführt habe, dass alternative Medizin als äquivalent zur Schulmedizin angesehen werde und jeder für sich in Anspruch nehmen würde, zwischen alternativer und evidenzbasierter Medizin entscheiden zu können, als wären es zwei gleichwertige Optionen. Matthias Pöhlmann gibt zudem zu bedenken, dass die Pandemie eine Ohnmachtserfahrung darstellt, die Menschen dazu verleitet, einfache Antworten in Verschwörungsmythen und alternativen Deutungen zu suchen, was weit verbreiteter Impfskepsis den Weg bereitet.

Eines der Kernthemen der ZDF-Satiresendung war der Rolle der Anthroposophie. Auch in der Veranstaltung der Evangelischen Akademie Tutzing wurde darüber gesprochen. Matthias Pöhlmann mahnt den übermenschlichen und absoluten Deutungsanspruch als Hauptproblem der Anthroposophie an. Gleichzeitig sei aber auch eine Unterscheidung zwischen Dogmatikern und Gemäßigten in der Szene wichtig. Die Anthroposophie teile sogar einzelne weltanschauliche Prinzipien mit dem christlichen Glauben. Allerdings zeugten die Reinkarnationstheorien der Anthroposophie von einem fragwürdigen und problematischen Menschenbild. Den Esoterikern gelingt es, so Pöhlmann, immer wieder sensible Themen wie Medizin oder Bildung zu besetzen, um sich damit in der breiten Öffentlichkeit profilieren zu können.

Berührungspunkte der Anthroposophie mit rechtsextremen Weltanschauungen

Dietrich Krauß kritisiert, dass die Anthroposophie in Teilen der Gesellschaft einen privilegierten Status gegenüber anderen Weltanschauungen genieße. Besonders problematisch sei das bei anthroposophischer und homöopathischer Medizin, von der für die Zulassung ihrer Behandlungsmethoden ein geringeres Maß an Evidenz verlangt werde, als für die klassische Medizin.

Im weiteren Verlauf des Gesprächs kam der aktuelle Protest gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung zur Sprache. Dieser werde von einem breiten Spektrum getragen, nicht zuletzt auch von Akteuren des rechten Spektrums. Dass die eher links-alternativ orientierte Anthroposophiebewegung auf einmal ein gemeinsames Ziel mit Rechtsextremen verfolge, hat laut Dietrich Krauß und Matthias Pöhlmann mit historischen Berührungspunkten der beiden Weltanschauungen zu tun: Tiefe Verbundenheit mit der Natur und Individualismus gehe in manchen Fällen auch mit Sozialdarwinismus und Selbstüberhöhung einher.

Gefragt nach dem Rational der Impfskepsis und den Implikationen einer Impfpflicht betonte Dietrich Krauß die Vermischung des politischen und wissenschaftlichen Diskurses als problematisches Merkmal dieser Debatte, da auf der politischen Ebene Dinge debattiert würden, über die in der Wissenschaft breiter Konsens bestünde. Dazu gehöre das positive Risiko-Nutzen-Verhältnis der Corona-Impfungen. Zudem führe die “Laienanmaßung” vieler Menschen, die wissenschaftliche Erkenntnisse ihren eigenen Erfahrungen unterordneten, zu einer Überschätzung der Risiken der Impfung im Verhältnis zu den Risiken des Virus. Auch wer sich gegen die Impfung entscheide, gehe aktiv ein Risiko ein, nämlich das größere, so Krauß. Eine Impfpflicht sei deshalb ein geeignetes und legitimes Mittel.

Dem pflichtet Matthias Pöhlmann bei und fügt an, dass sich das Verhältnis von Bevölkerung und Wissenschaft in der Corona-Krise gewandelt habe. “Wir haben momentan nicht mehr wie früher 80 Millionen Bundestrainer, die alles besser wissen, sondern eben 80 Millionen Virologen”, so der Theologe. Für einzelne Wissenschaftler gehe es auch darum, sich mit kontroversen Positionen zu profilieren.

Auch die Position der Kirchen kam in diesem Kontext zur Sprache. Matthias Pöhlmann betont den großen Wert der Kraft des besseren Arguments und der Freiwilligkeit. Beides genieße in der Kirche einen hohen Stellenwert. Primär müsse es aber darum gehen, die zum Teil diffusen Ängste der Nicht-Geimpften aufzufangen und Mitgefühl und solidarisches Handeln stärker als Argument für die Impfung zu betonen.

Profitorientierung der Schulmedizin als ein Grund für Misstrauen und Wissenschaftsskepsis

Einig waren sich die beiden Experten bei der Frage nach dem Umgang mit alternativer Medizin. Diese genieße einen Status großer gesellschaftlicher Anerkennung, der ihr auf Grundlage der Fakten nicht zustehe. Es würde an vielen Stellen reine Bestätigungsforschung betrieben und ihre Methoden so scheinbar wissenschaftlich legitimiert, wodurch das Vertrauen in evidenzbasierte Medizin verloren gehe, kritisierte Dietrich Krauß. Doch auch die Schulmedizin müsse sich dringend wieder stärker am einzelnen Menschen orientieren. Sie sei derzeit allzu häufig von Profitorientierung getrieben, was den Weg für Misstrauen und Wissenschaftsskepsis frei mache.

Am Ende des Online-Gesprächs tauschen Dietrich Krauß und Matthias Pöhlmann ihre Ansichten mit Blick auf die gesellschaftlichen Verwerfungen, die die Coronakrise und die Debatte um die Impfungen angefeuert haben, aus. Pöhlmann vertraut seinerseits trotz der Radikalisierung einzelner Ränder auf die Demokratie- und Verfassungstreue der übergroßen Mehrheit der Deutschen. Eine so lange anhaltende Notlage wie diese Pandemie machten die Menschen müde und erschöpft, was jetzt gesellschaftliche Spannungen begünstige. Es sei auch Aufgabe der Kirchen, diese mit abbauen zu helfen und zu vermitteln.

Dietrich Krauß schöpft Hoffnung aus der Beobachtung, dass die große Mehrheit der Menschen bereit sei, Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. Gleichzeitig müssten politische Entscheidungsträger in dieser Situation dafür sorgen, die reale Situation vieler abgehängter Menschen zu verbessern, um sie zurück in die Mitte der Gesellschaft zu holen und eine anhaltende Spaltung zu verhindern.

Beat Ostermeier

 

Weitere Informationen:

Den Video-Mitschnitt des Gesprächs können Sie unter diesem Link auf dem YouTube-Kanal der Evangelischen Akademie Tutzing abrufen.

Veröffentlichungen von Matthias Pöhlmann zu Religions- und Weltanschauungsfragen sind unter www.weltanschauungen.bayern und http://www.rechte-esoterik.de/ zu finden.

 

Bild: Udo Hahn, Matthias Pöhlmann und Dietrich Krauß in der Online-Debatte zur ZDF-“Anstalt” vom Dezember 2021 (Screenshot: eat archiv)

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