Provenienzforschung im Schloss Tutzing: eine “Mammutaufgabe”
Woher kommen die Kulturgüter, die sich noch heute im Schloss Tutzing befinden? Wer waren ihre einstigen Besitzer? Ist es möglich, die Herkunft der Kunstobjekte zu klären – vor allem im Hinblick auf die NS-Zeit? Auf der Suche nach Antworten hat die Evangelische Akademie Tutzing die Kunsthistorikerin Kerstin Holme mit einem Forschungsprojekt betraut. Im Interview gibt sie einen Einblick in ihre Arbeit.
Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste fördert Projekte der Provenienzforschung zu NS-Raubgut. Als eine der ersten kirchlich getragenen Einrichtungen in Deutschland befasst sich die Evangelische Akademie Tutzing mit der Herkunftsforschung ihrer eigenen Sammlung und erhielt dafür Mittel vom Zentrum, um Objekte im Schloss Tutzing auf NS-verfolgungsbedingten Entzug zu untersuchen.
Ein Teil der Schlossgemäuer reicht bis in das 15./16. Jahrhundert zurück. Seine annähernd heutige Form erhielt die Schlossanlage durch Friedrich Graf von Vieregg zwischen 1802 und 1816. Zahlreiche Besitzerwechsel folgten seit dem späten 19. Jahrhundert. Im Jahr 1921 erwarb der 1930 verstorbene ungarische Kunstsammler Marczell von Nemes, Sohn jüdischer Eltern, das Schloss und stattete es reich aus. Der spätere Eigentümer Albert Hackelsberger wurde von den Nationalsozialisten aus politischen Gründen verfolgt. 1940 starb er in Gestapohaft. Seine Frau Helene verkaufte 1940 das Schloss an Ida Kaselowsky, Witwe von Dr. Rudolf Oetker aus Bielefeld. Im Jahr 1949 erwarb die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern das Anwesen – schon zwei Jahre zuvor hatten hier die ersten Tagungen der Evangelischen Akademie Tutzing stattgefunden, zu Beginn mit der Kirche als Mieterin. Vom ursprünglichen Mobiliar und den Kunstgegenständen ist heute jedoch nur noch wenig in Tutzing vorhanden.
Gleichwohl befinden sich zahlreiche Kunstobjekte und historische Einrichtungsgegenstände im Bestand des Schlosses, in den dazugehörigen Nebengebäuden sowie in der umliegenden Parkanlage. Neben der Bestandsaufnahme der bis heute vorhandenen Kulturgüter – mit Ausnahme jener Werke, die nach 1945 entstanden sind – gilt es nun, die Provenienzen zwischen 1930 und 1949 systematisch zu erforschen und zu dokumentieren. Es ist eine Mammutaufgabe, mit der die Kunsthistorikerin und Historikerin Dr. Kerstin Holme betraut ist.
In diesem Interview gibt sie einen Einblick in ihre Arbeit.
Evangelische Akademie Tutzing: Frau Dr. Holme, Sie sind nun seit gut sechs Monaten mit der Provenienzforschung im Schloss Tutzing, dem Sitz der Evangelischen Akademie Tutzing, betraut. Woraus bestand Ihre Arbeit zu Beginn?
Kerstin Holme: Zunächst ging es darum, mir einen Überblick über die Kulturgüter im Schloss Tutzing, den dazugehörigen Nebengebäuden sowie in der umliegenden Parkanlage zu schaffen. Dazu habe ich eine umfassende Bestandsaufnahme der Kulturgüter vorgenommen. Der Schwerpunkt liegt auf der Untersuchung der Objekte, die vor 1945 entstanden sind und deren Provenienzen zwischen 1930 bis 1949. Es existiert keinerlei Inventarliste, so dass ich das gesamte Schlossareal – vom Dachgeschoss bis zu den Kellergewölben – systematisch durchsuchte. Eine äußerst spannende und vielseitige Aufgabe.
Wie sind Sie vorgegangen?
Ich habe jedes forschungsrelevante Kulturobjekt einer standardisierten Erfassung und Erschließung hinsichtlich der Grunddaten – das heißt Maße, Technik, Titel, Datierung, Urheber etc. – unterzogen sowie Hinweise auf dessen Werkidentität – zum Beispiel Künstlersignaturen, Punzen, Marken und ähnliches – dokumentiert. Vereinfacht ausgedrückt, die Kulturgüter sind in Zusammenarbeit mit Spezialistinnen und Spezialisten, Restauratoren, einem Fotografen und weiterer technischer Hilfskräfte einer umfangreichen Analyse, Rückseitenautopsie und Dokumentation unterzogen worden. Jedes Objekt wurde in die Hand genommen: gerahmte Bilder wurden ausgerahmt, historische Interieurs wie Spiegel, Kommoden, Schränke und so weiter von allen Seiten begutachtet. Dabei sind Provenienzmerkmale und Hinweise wie Etiketten, Nummern, Schriften, Stempel, Adressen von Rahmenmachern etc. genauestens nachzuweisen, um die Provenienzprüfung der bis heute in Besitz von Schloss Tutzing befindlichen Kulturgüter auf einen möglichen NS-verfolgungsbedingten Entzug untersuchen zu können.
Diese umfangreiche Dokumentation von etwa 230 untersuchungsrelevanten Kulturgütern ist jetzt abgeschlossen. Der gesamte Sammlungsbestand von Schloss Tutzing beläuft sich auf annähernd 400 Objekte.
Welche Kulturgüter konnten Sie in Dachkammern, Kellergewölben und anderen verborgenen Winkeln bergen? War der eine oder andere Schatz dabei?
In der Dachkammer des Schlosses fand ich in einer Ecke unter dem Gebälk verborgen zwei hübsche Petroleumlampen aus Glas von 1890. Sie stammen aus einer bekannten französischen Manufaktur. Dazu ein orientalisches Textil-Kuriosum, verziert mit Spiegeln, Fläschchen und Münzen. Bei diesen Funden dürfte es sich weniger um Prachtstücke handeln. Die Petroleumlampen waren in der damaligen Zeit alltägliche Gegenstände. Ob auch der eine oder andere Schatz dabei ist, lässt sich erst nach Abschluss der Untersuchungen sagen.
Wie gehen Sie weiter vor?
Nach der systematischen Erfassung der bis heute im Schloss Tutzing vorhandenen Kulturgüter und ihrer objektspezifischen Provenienzmerkmale bin ich momentan vor allem mit Recherchen über Archivalien, Literatur, Datenbanken und Online-Ressourcen beschäftigt. Dabei sichte ich sowohl interne Dokumente im Hausarchiv als auch externe Quellen in Archiven und Nachlässen. Wichtig ist dabei stets einen kritischen Blick zu bewahren: auch Quellen können – unbewusst – fehlerhaft sein. Hinzu kommen unvollständige Überlieferungen, das Weglassen von Informationen oder bewusste Verfälschung von Provenienzen und Quellen. Parallel dazu führe ich Interviews mit Zeitzeugen, um die Herkunft einzelner Kulturgüter auch mithilfe von persönlichen Erinnerungen rekonstruieren zu können.
An welche Orte führte Sie Ihre Forschung bisher – außer in das Schloss Tutzing?
Das sind einige! Zum Beispiel (Firmen-)Nachlässe oder Akten zum NS-Kulturgutraub oder den sogenannten Wiedergutmachungs- und Entschädigungsakten, die sich zum Beispiel im Bayerischen Wirtschaftsarchiv der IHK, im Stadtarchiv München, im Staatsarchiv und Hauptstaatsarchiv in München oder im Bundesarchiv in Koblenz und Berlin befinden. Hinzu kommen solche Quellen, die weitere Informationen zum Eingang der Objekte in die Sammlung enthalten könnten, private Familienarchive, das Gemeindearchiv Tutzing, das hauseigene Archiv sowie das Landeskirchliche Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Aber auch (Staats-)Bibliotheken und Literaturarchive, wie die Monacensia im Hildebrandhaus in München, die Universitätsbibliothek der LMU München, das Zentralinstitut für Kunstgeschichte sowie zahlreiche online verfügbare Archivalien z.B. im Deutschen Kunstarchiv in Nürnberg, dem Bildarchiv Foto Marburg oder in der Österreichischen Nationalbibliothek.
Was waren die bislang spannendsten Erkenntnisse?
Es ist für mich sehr bemerkenswert, welche persönlichen Begegnungen im Schloss Tutzing stattfanden und welch vielschichtiges Netzwerk sich daraus entwickelte. Über Jahrzehnte waren die Besitzer von Schloss Tutzing und deren Gästeschar eng mit umliegenden Nachbarn und deren Freundeskreisen verbunden. Aus zahlreichen Quellen wie Tagebucheinträgen, Gästebüchern, Briefwechseln, Fotoalben etc. lässt sich das intellektuelle Who is Who der jeweiligen Zeit ablesen. Da trafen sich berühmte Künstlerinnen und Künstler, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Orientalisten, Mäzene, Menschen aus Wissenschaft und Industrie.
Spannend finde ich persönlich auch das Erkennen und die Identifizierung bisher unbekannter Personen auf alten Fotografien, wodurch sich für mich nächste Recherchequellen ergeben.
Welche Rätsel gilt es noch zu lösen? Was sind für Sie die wichtigsten Fragen?
Das Forschungsprojekt ist eine Mammutaufgabe und bereits in der Aufgabenstellung sehr anspruchsvoll. Denn um die Provenienzprüfung der bis heute im Besitz von Schloss Tutzing befindlichen Kulturgüter auf einen möglichen NS-verfolgungsbedingten Entzug vorzunehmen, ist zunächst einmal zu eruieren, welche gegenwärtig im Besitz der Evangelischen Akademie Tutzing befindlichen Kulturgüter von welchen einstigen Vorbesitzern, also Marczell von Nemes, Albert Hackelsberger oder Ida Kaselowsky bzw. der Familie Oetker stammen. Im Gegensatz zu Museen zum Beispiel sind keine Erwerbs- oder Eingangsbücher geführt worden.
Essenziell ist, die komplexen Besitzerwechsel von Schloss Tutzing im Kontext historischer Unrechtsmaßnahmen zu prüfen und hier hinsichtlich der Vermutung eines verfolgungsbedingten Entzugs des Eigentums von Marczell von Nemes und der politischen Verfolgung von Albert Hackelsberger zu eruieren.
Haben Sie einen Lieblingsort im Schloss oder einen Lieblingsgegenstand?
Ich kann Ihnen keinen speziellen Lieblingsort nennen. Für mich ist das gesamte Areal des Schlosses mit seiner einmaligen Lage am Starnberger See mit Blick auf die Alpenkette ein einzigartiger Ort. Jede Nische, jeder Raum weist eine Besonderheit auf. Ob Sie sich im Kavaliersgewölbe, in den Gästezimmern, im Vestibül oder den Salons des Schlosses befinden, überall kommen Sie mit den vielseitigen Kulturgütern des Anwesens in Verbindung.
Das Gespräch führte Dorothea Grass
Wissenschaftlicher Beirat im Projekt
Dem Provenienzforschungsprojekt steht ein wissenschaftlicher Beirat beratend zur Seite, dem drei renommierte Expertinnen angehören: Dr. Caroline Flick, Historikerin und unabhängige Wissenschaftlerin in Berlin; Prof. Dr. Meike Hopp, Fachgebiet Digitale Provenienzforschung an der Technischen Universität Berlin am Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik sowie Dr. Ilse von zur Mühlen, Wissenschaftliche Mitarbeiterin/ Provenienzforschung, Staatliche Graphische Sammlung München.
Zum Projekt auf der Homepage des Deutschen Zentrum Kulturgutverluste gelangen Sie hier.
Bild: Kerstin Holme bei der Arbeit (Foto: Haist / eat archiv)
Über Kerstin Holme
Kerstin Holme studierte Mittlere und Neuere Kunstgeschichte, Neuere und Neueste Geschichte sowie Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo sie 2010 im Fach Kunstgeschichte promovierte. Seit 2001 war sie in verschiedenen führenden Positionen im Kunsthandel tätig sowie beim Auktionshaus Christie’s, bevor sie 2009 die Leitung der Geschäftsstelle von PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne e.V. übernahm. Von 2014 bis Sommer 2022 leitete sie die Geschäftsstelle der Freunde des Tel Aviv Museum of Art, Deutschland e.V. (TAMAD e.V.). Seit Herbst 2022 verantwortet Kerstin Holme das Provenienzforschungsprojekt “Schloss Tutzing” der Evangelischen Akademie Tutzing. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn.