Provenienzforschung als Lebensthema
Katrin Stoll führt eines der renommiertesten Kunstauktionshäuser Deutschlands. Im Mai versteigerte sie das vielleicht politischste Motiv Carl Spitzwegs: das Gemälde „Justitia“. In der Süddeutschen Zeitung stand daraufhin zu lesen, nicht der Erlös von 700.000 Euro sei daran rekordverdächtig gewesen, sondern die große Aufmerksamkeit inmitten der Corona-Lockdown-Phase. Im RotundeTalk sprach sie über die Herausforderungen dieser Zeit und die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.
„Ich kenne nur Krisen und schwierige Zeiten.“ Katrin Stoll, alleinige Inhaberin des Auktionshauses Neumeister in München, scheint so schnell nichts aus der Ruhe bringen zu können. 2008 – mitten in der Finanzmarktkrise – wurde sie alleinige Inhaberin eines der renommiertesten Auktionshäuser in Deutschland. Durchaus ein Wagnis damals, denn sie musste erst einmal das Geld aufbringen, ihre beiden Schwestern auszuzahlen. Und jetzt Corona: „Fassungslosigkeit, Neugier und Pragmatismus“ habe die Pandemie mit ihren Folgen für die ganze Welt in ihr ausgelöst habe, wie sie im „RotundeTalk“ der Evangelischen Akademie Tutzing erzählt.
Drei Stichworte, die charakterisieren, was Katrin Stoll antreibt und ihr dynamisches Auftreten erklären, ihre rasche Auffassungsgabe und ihr beherztes und entschiedenes Handeln. In den Betrieb ihres Vaters Rudolf Neumeister war sie schon 1983 eingestiegen. Zuvor hatte sie einige Semester Medizin studiert, sich dann bei einem auf Restaurierung spezialisierten Schreiner ausbilden lassen und eine Lehre als Bürokauffrau absolviert. Sie hospitierte bei Auktionshäusern, u.a. bei Sotheby’s in London, ehe sie in das Unternehmen des Vaters einstieg und alle Abteilungen durchlief. Sie ist auch von der Industrie- und Handelskammer (IHK) vereidigte Sachverständige für Malerei und Grafik des Deutschen Expressionismus.
Wenn Katrin Stoll zu Auktionen einlädt, dann interessieren sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, das Handelsblatt und andere ganz automatisch. Bis heute führt sie das einzige deutsche Kunsthandelsunternehmen, das unabhängigen Historikern Zugang zu Akten aus der Zeit des Nationalsozialismus gewährte. „Ich war durch das Washingtoner Abkommen von 1998 sensibilisiert.“ Sie sei „unsicher“ gewesen, sagt sie rückblickend. Sie habe sich immer gefragt, was im Keller liege.
Meike Hopp, damals wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München, durchsuchte buchstäblich auch den Keller des Auktionshauses und fand eher zufällig, was längst verschollen schien: Fast alle Kataloge des Auktionshauses Weinmüller aus der Zeit des Dritten Reiches, in das Rudolf Neumeister 1958 eintrat und es schließlich übernahm. Adolf Weinmüller wurde schon 1931 Mitglied der NSDAP – und war später am Kunstraub der Nationalsozialisten beteiligt. Meike Hopp wurde mit ihrer Arbeit promoviert. Innerhalb von zwölf Monaten sind 35.000 Datensätze digitalisiert und öffentlich zugänglich gemacht worden. Mit ihrem Beitrag zur Provenienz, zur Erforschung der Herkunft, hat sich Hopp längst einen Namen gemacht. Die Kunsthistorikerin ist inzwischen Juniorprofessorin für Digitale Provenienzforschung an der TU Berlin.
Warum nicht andere Unternehmen Katrin Stolls Initiative folgten? Diese Frage dürfe man nicht ihr stellen. Der Aufwand ist erheblich. Ungeachtet mancher öffentlicher Mittel habe sie selbst einen „mittleren sechsstelligen Betrag“ in die Forschung investiert. Was Sie unternimmt, das tut sie aus Überzeugung. Wirtschaftlich habe ihr das keinen Vorteil gebracht, aber hohe Anerkennung. Ein Aufwand, den andere – so muss man folgern – offensichtlich scheuen. Und sich dafür öffentlich nicht einmal rechtfertigen müssen.
Spätestens seit dem Schwabinger Kunstfund 2012 ist das Thema Provenienz in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gelangt. Teile der Sammlung des Kunstsammlers Cornelius Gurlitt waren unter Verdacht geraten, es handle sich um Raubkunst. Tatsächlich konnte dies bislang nur für wenige Bilder nachgewiesen werden. Aus der Sicht von Katrin Stoll fehlt ein Lösungsansatz, der den Kunsthandel wie private Besitzer einbindet. Hinderlich sei dabei auch, dass Kultur Ländersache sei – und es bei diesem Thema einen die Bundesländer übergreifenden Ansatz brauche. Aktuell delegiere der Staat die Verantwortung an den Handel, doch müsse er als Rechtsnachfolger des Dritten Reiches eigentlich selbst aktiv werden.
In der ersten Kunstauktion in der Corona-Krise hat Katrin Stoll das vielleicht politischste Motiv des Malers Carl Spitzweg versteigert. Es trägt den Titel „Justitia“ und erzielte einen Verkaufspreis von fast 700.000 Euro. Wenn sie von dem Bild spricht, ist sie kaum zu bremsen. 1857 ist es entstanden – und gar nicht biedermeierlich-betulich. Es ist eine Parodie auf den Rechtsstaat im nachrevolutionären Deutschland. Sarkasmus schlägt dem Betrachter entgegen, denn Justitia ist nicht mehr überparteilich. Ihre Darstellung – mit kaputter Waage, großen Brüsten und verrutschter Augenbinde, der Riss im Fundament, auf dem sie steht – signalisieren, dass von Rechtsstaat keine Rede sein kann. Das Bild fand erst nach dem Tod Spitzwegs einen Besitzer. Spätere Eigentümer, das jüdische Ehepaar Else und Leo Bendel, mussten 1937 in den Zwangsverkauf einwilligen. Es erfolgte der Ankauf für das geplante „Führermuseum“. In der Bergungsstelle Salzbergwerk Altaussee in Österreich wurde es eingelagert. Über den Central Collecting Point München kam es 1949 in den Besitz der Bayerischen Staatsregierung. Über die Treuhandverwaltung von Kulturgut gelangte es schließlich 1961 ins Bundespräsidialamt – ehe es 2019 an die Erben von Else und Leo Bendel restituiert und Anfang Mai dann versteigert wurde.
Katrin Stoll kennt weitere Kunstwerke mit diesem Schicksal. Und sie weiß um den sehr erheblichen Aufwand, der erforderlich ist, den einst Enteigneten und längst Verstorben bzw. ihren Erben Recht widerfahren zu lassen. Fassung, Neugier und Pragmatismus – diese Kräfte lassen die Kunsthändlerin nicht ruhen. Provenienzforschung – das ist ihr Lebensthema geworden.
Udo Hahn
Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing
Hinweis: Hier können Sie das Video-Interview mit Katrin Stoll auf YouTube ansehen.
Bild: Die Kunst-
Bild: Katrin Stoll im Gespräch mit Udo Hahn (Foto: ma/eat archiv)