Politischer Club über Sicherheitspolitik
“Wir sind über die Jahre erzogen worden, nicht über Sicherheitspolitik nachzudenken.” Mit dieser Haltung stand der Generalinspekteur der Bundeswehr Carsten Breuer im Politischen Club nicht alleine da. Die Tagung zum Thema warf nicht nur provokante Fragen auf wie “Können wir Krieg?” sondern schaute genauer hin: Was brauchen wir, damit sowohl die deutsche als auch die europäische Sicherheit in Zukunft gewährleistet sind? Lesen Sie hier den ausführlichen Bericht.
“Deutsche Sicherheitspolitik” lautete das Thema des Politischen Clubs vom 21.-23. Juni 2024. Vor aktuellem Hintergrund kreiste die Tagung um drei zentrale Aspekte: eine Bundeswehr auf der Höhe der Zeit und der weltpolitischen Spannungen, eine zukunftsweisende, berechenbare und für Partner wie Gegner “lesbare” deutsche Sicherheitspolitik sowie nicht zuletzt die Sicherung der Nato beziehungsweise einer künftigen europäischen Sicherheitsordnung (hier das Programm abrufen) .
Dass sich die Sicherheitspolitik Deutschlands nicht alleine hierzulande entscheidet, sondern direkt an der komplexen Weltlage hängt, wurde in der Tagung nur allzu deutlich: Es ging um Geopolitik, die aktuelle Sicherheitslage Europas, die Situation in der Ukraine, die Nato, die Wahlen zum Europaparlament, die vorgezogenen Parlamentswahlen in Frankreichs sowie die Wahlen in den USA im November, die Ambitionen Chinas und Russlands, den Zusammenhang zwischen Wirtschafts- und Verteidigungspolitik, hybride Kriegsführung, aktuelle Waffensysteme und Rüstungsprojekte, die europäische Verteidigungslinie und vieles mehr.
“Die EU ist umringt von einem Chaosbogen”, sagte der Leiter des Politischen Clubs, Dr. Roger de Weck, in seinen einführenden Worten. Es seien nicht nur die gegenwärtigen Kriegsgebiete in der Ukraine und im Nahen Osten, sondern eine weltweite Lage der Fragilität, die im Zusammenhang stehe mit “chinesischer Arroganz, russisch-kriegerischem Revanchismus sowie den Unwägbarkeiten im Zusammenhang mit den Wahlen in den USA”. All das seien Gründe für ein Anwachsen des Isolationismus, so de Weck.
Ukraine-Krieg: “zugleich archaisch und modernst”
“Wir sind über die Jahre erzogen worden, nicht über Sicherheitspolitik nachzudenken.” Das habe sich mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 grundlegend geändert, sagte der Generalinspekteur der Bundeswehr Carsten Breuer im ersten Vortrag der Tagung. Breuer war der Einladung vom Leiter des Politischen Clubs, Roger de Weck, und Akademiedirektor Udo Hahn gefolgt. Die Landung des ranghöchsten Soldaten der Bundeswehr mit dem Hubschrauber auf dem Tutzinger Fußballplatz zog einen Bericht auf dem örtlichen Online-Portal “VorOrtNews” nach sich (hier nachlesen).
Die Frage nach der nationalen Sicherheit sei in den vergangenen Jahren “outgesourct” worden, sagte Breuer in seinem Vortrag. Nach innen seien viele Aufgaben der Polizei übertragen worden, nach außen der Bundeswehr. Er kritisierte die fehlende strategische Kultur der Jahre vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs sowie strukturelle Probleme und Bürokratie. Auch sei versäumt worden, die Streitkräfte kontinuierlich weiter auszurüsten – durch den Angriff Russlands auf die Ukraine sei schließlich deutlich geworden, wie limitiert die Ressourcen in der Bundeswehr mittlerweile sind. In der Ukraine werde ein „Krieg von gestern mit den Waffen von vorgestern, aber auch mit dem Einsatz modernster Technik geführt“. Auch in Zukunft werde dieser Krieg “zugleich archaisch und modernst” sein.
Breuer ging auch auf das aktuelle Bedrohungsumfeld ein: Russland produziert im Jahr 1500 Kampfpanzer, von dieser Menge gehe ein Teil in die Reserve und ein Teil an die Front. Als einer der Experten, die an der Erstellung des Weißbuchs des Bundesverteidigungsministeriums beteiligt waren, erinnerte er an eine Passage, die 2016 festhielt, dass Russland für die Restituierung seiner Streitkräfte etwa zehn bis zwölf Jahre brauchen werde. Dieser Weckruf sei zu dem Zeitpunkt jedoch politisch verhallt. Man müsse sich darüber im Klaren sein, dass Russland im Jahr 2029 fähig sein werde, auch Deutschland anzugreifen.
Breuer: “Der war of choice ist einem war of necessity gewichen.”
Breuer warnte vor dem russischen Präsident Putin. Dieser werde nicht mit der Ukraine enden, er ziele auf das westliche Gesellschaftsmodell und den Zusammenhalt in Europa ab. Breuer zufolge werte Putin Deutschland als “Einfallstor” zum westlichen Gesellschaftsmodell. In der Verteidigungsstrategie der Nato werde Deutschland zukünftig eine wichtige Rolle als logistische Drehscheibe spielen. Das Sondervermögen für die Bundeswehr von 100 Milliarden Euro bezeichnete Breuer als nicht ausreichend. Für die notwendigen Investitionen werde erheblich mehr benötigt.
Im anschließenden Gespräch mit Roger de Weck machte Breuer sich dafür stark, der Ukraine Luftabwehrwaffen zu liefern. “Wir müssen aus westlicher Sicht alles dafür tun, um die Ukraine zu unterstützen”, sagte er. Er forderte außerdem eine unabhängige europäische Rüstungsindustrie. Der war of choice sei einem war of necessity gewichen.
Der Krieg in der Ukraine sei ein Krieg gegen die Demokratie, sagte Jean Asselborn, der frühere Außenminister Luxemburgs. Asselborn reflektierte in seiner Rede die veränderte Sicherheitslage in Europa seit 2019 – in dem Jahr hatte er die Rede zum Neujahrsempfang der Evangelischen Akademie Tutzing gehalten (hier Bericht nachlesen). 2019 war auch das Jahr der letzten Europaparlamentswahlen vor denen im Mai 2024. In diesen vier Jahren habe sich der internationale Kontext gravierend verändert.
Asselborn nannte die zwei Zäsuren, auf die sich mehrere Referierende an dem Wochenende bezogen: den Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 sowie Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Asselborn kritisierte die Linie des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, in den vergangenen 20 Jahren die Zwei-Staaten-Lösung verhindert und die Siedlungspolitik weiter voran getrieben zu haben. Eine Zwei-Staaten-Lösung, so Asselborn, sei unumgänglich, Israels Existenz müsse gesichert bleiben und auch Palästinenser bräuchten ein eigenes Land, in dem sie in Würde leben könnten.
Von den Ergebnissen der Ukraine-Konferenz kurz zuvor – vom 15. bis 16. Juni 2024 – auf dem Bürgenstock (Schweizer Kanton Nidwalden) zeigte sich Asselborn enttäuscht. Er sprach sich für ein Beibehalten der Sanktionen gegen Russland aus, auch für eine Luftabwehr für die Ukraine.
Weitere Unwägbarkeiten stünden bevor: der Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen mit den möglichen Konsequenzen für das Verteidigungsbündnis der Nato sowie die Rolle Chinas in Spannungsfeld mit Russland, seiner wirtschaftspolitischen Rolle in der Welt und die Haltung des Landes gegenüber Europa.
Auch die Europäische Union selbst sieht Asselborn herausgefordert. Er nannte den Rechtsruck in den Niederlanden als eine Entwicklung, die ihm Sorgen bereite. Dasselbe gelte für Italien, wo die Medienfreiheit infrage gestellt und eine Verfassungsänderung durch die Regierung von Giorgia Meloni angestrebt werde. Das Verhalten des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán kritisierte Asselborn scharf: Orbán dürfe keine Referenz für Europas Zukunft werden, er schade der Zukunft der Union.
Als eine der größten Herausforderungen bezeichnete Asselborn das Thema Migration. Er forderte eine gemeinsame europäische Lösung. Die sogenannte Ruanda-Lösung bezeichnete er als Verstoß gegen die Genfer Konvention. Asselborn rief Europa zu mehr Zusammenhalt auf und warnte vor zerstörerischen Kräften. Sollte die EU einmal zerstört werden, könne sie nicht so schnell wieder aufgebaut werden. Im anschließenden Gespräch sagte er, es brauche keine EU-Armee, sondern eine gute Zusammenarbeit der Armeen der EU-Mitgliedsländer.
Ein gewichtiger Teil der Tagung widmete sich den Themen Verteidigungsfähigkeit und Waffensystemen – sowohl im deutschen als auch im europäischen Kontext. Dr. Ulrike Franke, Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR) in Paris, ging auf das deutsch-französische Zusammenspiel in der Sicherheitspolitik ein, in der beide Länder enge Partnerschaften unterhalten. Sie beleuchtete das Zusammenspiel anhand der aktuellen Ereignisse im Vorfeld der Tagung: Die Europawahlen vom 9. Juni und den anschließenden Beschluss des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, das französische Parlament aufzulösen und Neuwahlen für den 30. Juni und 7. Juli 2024 anzuordnen. Je nach Ausgang der Wahl und wer zukünftig den Premierministerposten bekleidet, stellt sich die Frage nach der Rolle Frankreichs in der Nato sowie der Außen- und Sicherheitspolitik des Landes.
Franke ging auch auf die gemeinsamen Rüstungsprojekte FCAS (Future Combat Air System) und MGCS (Main Ground Combat System) ein. Am Luftabwehrsystem FCAS ist neben Deutschland und Frankreich auch Spanien beteiligt. Das Projekt unter französischer Führung, das Franke als „System der Systeme“ beschrieb, startete 2027 und soll ab 2045 einsatzfähig sein. Das MGCS dagegen ist ein rein deutsch-französisches Rüstungsprojekt zur Entwicklung eines gemeinsamen Kampfpanzers. Es läuft unter deutscher Führung und soll ab 2040 zur Verfügung stehen. In der Zusammenarbeit in beiden Projekten spiegele sich die jeweilige Haltung der Kooperationspartner zu Europa, dem Verteidigungsbündnis der Nato und es komme auch die jeweilige strategische Kultur der Länder zum Ausdruck. Auch die aktuellen politischen Ereignisse, militärischen Auseinandersetzungen sowie deren Auswirkungen haben einen Effekt auf die die Projekte. So habe der Krieg in der Ukraine in verteidigungspolitischen Fragen ein Moment der Desillusionierung ausgelöst und ein Hinwenden zu den osteuropäischen Ländern, sagte Franke.
Ulrike Franke betreibt gemeinsam mit dem Journalisten Thomas Wiegold, dem Politikwissenschaftler Prof. Dr. Carlo Masala und Dr. Frank Sauer, den Podcast “Sicherheitshalber”, der sich mit Fragen der Sicherheitspolitik eingehend beschäftigt. Auf der Tagung war Dr. Frank Sauer ebenfalls zu Gast. Er ist Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Universität der Bundeswehr München sowie Head of Research des Metis-Instituts für Strategie und Vorausschau.
Unter dem Vortragstitel „Russlands Krieg gegen die Ukraine – mögliche Zukunftsszenarien“ ging er auf die neue Generation von Waffensystemen ein, die mit Deeplearning und Künstlicher Intelligenz funktioniert. Ähnlich wie auch Carsten Breuer zu Beginn der Tagung lautete auch Sauers Befund: “Wir haben alle auf Frieden heruntergefahren.” Er thematisierte damit die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und forderte dringend, diese an die aktuellen Bedarfe anzupassen.
Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks?
Dazu sei vor allem notwendig, neue Strukturen zu schaffen, um aus dem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr maximalen Nutzen ziehen zu können. Die bisherigen Strukturen seien “zu langsam, zu aufgebläht”, so Sauer. Auch sei wichtig, den aktuellen Verteidigungshaushalt so effizient wie möglich zu nutzen – was auch bedeuten könnte, mehr auf Quantität als auf High-End-Ausstattung zu setzen, zum Beispiel bei Fregatten. Hier müsse man “wegkommen vom Manufakturdenken” und spitzte bewusst zu: Es dürfe “keine Boutique-Waffensysteme für Bonsai-Armeen” geben.
Hinsichtlich des Ukraine-Kriegs müsse es das Ziel Deutschlands sein, die Ukraine so zu unterstützen, dass sich der Krieg für Russland ab einem Zeitpunkt nicht mehr lohnt. Die Ampel-Koalition der Bundesregierung habe die Aufgabe, Stabilität zu vermitteln und im Amt zu bleiben. Auf europäischer Ebene hält Sauer eine Wiederbelebung des “Weimarer Dreiecks” zwischen Frankreich, Polen und Deutschland für sinnvoll und sprach sich auch dafür aus, hinsichtlich der gemeinsamen europäischen Verteidigungsprojekte Weichen zu stellen, die die Verlässlichkeit dieser Projekte garantieren.
Die Schweizer Juristin und Aktivistin Sanija Ameti ging in ihrem Vortrag auf die Zusammenhänge zwischen Sicherheitspolitik und kritischen Infrastrukturen ein und zeigte Ansätze eines gesamteuropäischen Verteidigungsmarkts auf. Ameti forscht an der Universität Bern zum Thema Cybersecurity und internationales Recht und ist Co-Präsidentin der politischen Bewegung “Operation Libero”. Den Begriff Cyberwar hält Ameti für irreführend. Etwa seit 1993 werde der Begriff verwendet und suggeriere bis heute, dass Cyberwars in einer Art virtuellem Raum stattfänden. Ameti plädiert dafür, den Begriff hybride Kriegsführung für die Handlungen zu benutzen, die zwar unter der Schwelle einer militärischen Aktion bleiben, dennoch aber einer militärischen Strategie dienen. Hybride Kriegsführung lasse sich besonders gut an kritischen Infrastrukturen beobachten: Energienetzwerke und Orte der Energieerzeugung, Gesundheitswesen, Finanzenwesen, Kommunikationsstrukturen. Wenn Strukturen wie diese zum Ziel von Angriffen werden, dann ist es oft schwierig den oder die Verursacher:in zu identifizieren – und es dauert.
Ameti: “Die Finanzierung der Medien ist Teil des Verteidigungsbudgets.”
Wichtig sei daher, an der Resilienz zu arbeiten, um gegen Angriffe durch hybride Kriegsführung gewappnet zu sein – vor allem, wenn sie sich gegen kritische Infrastrukturen richten. Dafür sei strategische Autonomie wichtig. Ameti plädierte für ein Stärken des europäischen Pfeilers der Nato und ein staatenunabhängiges Zusammenspiel in der Industriepolitik. “Wir brauchen eine Industriepolitik zwischen Systemen und nicht zwischen Staaten!”, so Ameti. Sie sprach sich im Weiteren für einen Markt aus, der auf Kollaboration und nicht auf Wettbewerb beruht. Auch Demokratie sei eine kritische Infrastruktur, fügte Ameti hinzu. Um Fake-News, sogenannten Informationsoperationen und Instrumentalisierungen von Narrativen entgegentreten zu können, sei es unbedingt notwendig, die Medien zu stärken und in sie zu investieren – sowohl in die öffentlich-rechtlichen als auch in die privaten. Ameti sagte: “Die Finanzierung der Medien ist Teil des Verteidigungsbudgets.”
Auch müsse das Zusammengehörigkeitsgefühl in Europa gestärkt werden, zum Beispiel durch Austauschprogramme für Schülerinnen und Schüler, Studierende oder auch für Vereine. Ein weiterer Vorschlag von Ameti: Um Europa besser kennenlernen zu können sollten junge Menschen unter 18 Jahren gratis mit dem Zug durch Europa fahren können.
“Wettbewerbsfähigkeit stärken”
Prof. Dr. Christoph Herrmann hält den Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht an der Universität Passau. Sein Vortrag war mit der Frage “Deutschlands Wirtschaftspolitik als Waffe einsetzen?” überschrieben. Er stellte die Sicherheitslage und Verteidigungspolitik in Deutschland und Europa in ihren geschichtlichen Kontext und beleuchtete außerdem die geoökonomische Politik: die Frage nach Rohstoffen, Energie, Geographie und Technologie. Die Frage, die er im Titel des Vortrags gestellt hatte, beantwortete Herrmann mit einem Nein. Deutschland könne seine wirtschaftspolitische Macht nicht als Waffe einsetzen. Deutschland müsse sich von der Vorstellung verabschieden, Exportweltmeister zu sein. Stattdessen forderte Herrmann: “Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit stärken!”. Darüber hinaus sei es essenziell, den europäischen Binnenmarkt in seinem Mehrwert anzuerkennen, risikofreudiger zu werden und in wirtschaftspolitischer Sicht eine positive Vision zu entwickeln.
“(Europäische) Sicherheit inmitten globaler Machtverschiebungen” war das Thema, mit dem sich General a.D. Hans-Lothar Domröse, ehemaliger Oberbefehlshaber der Allied Joint Force Command Brunssum der Nato, in seinem Vortrag beschäftigte. Die Konflikte in Ukraine und in Gaza seien “zwei Kriege, die uns unmittelbar betreffen”. Was wir momentan erleben, sei ein Wettbewerb der Systeme. Entscheidend für die Sicherheit in Europa blieben die USA – und die Nato. Entscheidend sei hier, wer die US-Präsidentschaftswahlen am 5. November 2024 gewinne. Hinsichtlich eines Beitritts der Ukraine in die EU sowie in die Nato, erinnerte Domröse daran, dass beides als Ziel in der ukrainischen Verfassung stünde. Ein Nato-Beitritt der Ukraine hält Domröse für “eine Frage der Zeit”.
Michael Rühle, ehemaliger Leiter des Planungsreferats in der Politischen Abteilung der Nato in Brüssel, ging auf die Zukunft des Verteidigungsbündnisses ein, dass 2024 seinen 75. Geburtstag feiert. Durch den Krieg in der Ukraine werde die Nato öffentlich wieder relevanter, stehe zugleich aber vor großen Herausforderungen. Dazu gehörten die vielen militärischen Auseinandersetzungen weltweit, das Phänomen der Destabilisierung von Gesellschaften und des fehlenden inneren Zusammenhalts, die technologischen Innovationen und der Aufstieg des Populismus.
Aber auch als Institution müsse die Nato dazulernen, so Rühle. Teamwork, Vernetzung mit allen Akteurinnen und Akteuren, mit der EU, aber auch mit dem privaten Sektor, seien wichtige Punkte. Das Bündnis lebe von Konsens und Einstimmigkeitsprinzip, Sanktionsmechanismen untereinander gebe es nicht.
Im Gespräch mit Stefan Kornelius, dem Leiter des Ressorts Politik der Süddeutschen Zeitung, ging es um die Zukunft des euro-atlantischen Handlungsrahmens. Auch er beschäftigte sich mit dem Ergebnis der Europawahlen vom 9. Juni und dem politischen Rechtsruck in Deutschland und Europa. “Es gibt keine Zwischenräume mehr”, sagte Kornelius zu den radikalen Unversöhnlichkeiten in der politischen Landschaft – sowohl in Deutschland, Europa als auch in den USA. Er nehme einen verstärkten Wunsch nach Eindeutigkeit wahr und äußerte die Vermutung, dass die liberalen Gesellschaften möglicherweise einen Kipp-Punkt erreicht hätten. Der gesellschaftliche Zusammenhalt sei bedroht.
In einem kurzen Schlusswort wies der Leiter des Politischen Clubs, der Publizist Roger de Weck, auf drei Themen hin, die ihm in seiner Arbeit ein Anliegen sind – und auch diese Ausgabe des Politischen Clubs geprägt haben: Demokratie, Außen- und Sicherheitspolitik, Medien. Hinsichtlich der Lage der Demokratie seien die Verhältnisse, die aktuell in Russland vorherrschten, “die Schlimmsten auf unserem Kontinent”. In der Haltung zum Krieg in der Ukraine äußerte de Weck auf individueller Ebene Verständnis für das Konzept des Pazifismus, kollektiv gesehen bewirke er aber in der aktuellen Situation nichts.
Außen- und Sicherheitspolitik sei “nie ein schönes Gewerbe” und beruhe immer auf Kompromissen. Der Weg zum Kompromiss sei nicht edel, der Kompromiss selbst sei es aber. Politik bedeute immer den Umgang mit Zielkonflikten. Hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Demokratie und Medien wies de Weck auf die kommende Ausgabe des Politischen Clubs vom 15.-17. November hin, der sich eingehend mit den Methoden von Desinformation und Information auseinandersetzen werde.
Dorothea Grass
Bild: Sommertagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing in der Rotunde (Foto: Haist / eat archiv)