Politik und Religion – Nachlese zum Politischen Club im März
Zwischen Säkularisierung, Polarisierung, Emotionalisierung und weltweiten Krisen: Wie ist das Verhältnis zwischen Religion und Politik? Die Frühjahrstagung des Politischen Clubs, zu der auch der frühere Bundespräsident Christian Wulff kam, ging vom 15.-17. März 2024 dieser Verhältnisbestimmung nach.
Die Tagung unter der Leitung von Dr. h.c. mult. Roger de Weck und Akademiedirektor Udo Hahn vereinte eine Vielzahl an Perspektiven: Machtpolitik, Aspekte der Ohnmacht, Willkür und Allmacht, Radikalisierungstendenzen in der Gesellschaft, der Frage des Dialogs zwischen Islam und Judentum, der Islam in Deutschland, der Entfremdung zwischen Religion und Politik, der Positionierung konservativer Kräfte, literarische Überlegungen zum Begriff des Hasses sowie dem Verhältnis zwischen den drei Pfeilern Kultur, Staat und Religion.
Militärbischof Dr. Bernhard Felmberg, Bischof für die Evangelische Seelsorge in der Bundeswehr, bestritt den Tagungsauftakt mit einem Vortrag zum Thema “Religion und Bundeswehr, Glaube und Waffe”. Mit Religion ließen sich Brände legen, aber auch Brände löschen, so Felmberg. Er äußerte Skepsis darüber, ob es eine Renaissance des Glaubens gebe – das sei eher Wunschdenken. Was er aber für unübersehbar hält, ist eine Renaissance der Gewalt. Mit Blick auf die aktuellen Schauplätze militärischer Gewalt wie etwa in der Ukraine und im Gazastreifen, sprach er von einer “unerfreulichen Gemengelage”. Sein Befund: Die Menschen hätten etwas zu naiv in die Zukunft geschaut. Oder um es mit Luther zu sagen: “Der Mensch ist, wie er ist. Er verändert sich nicht allzu stark.” Die Nachjustierung der evangelischen Friedensethik bewertete Felmberg als positiv.
Religiöse Praxis zwischen Ausnahmesituationen und Widersprüchen
In seinem Vortrag gab Felmberg auch einen Überblick über die aktuellen Zahlen in Deutschland: Demnach sind 107 Geistliche der evangelischen Kirche in der Militärseelsorge tätig. Seit 2019 besteht auch eine jüdische Militärseelsorge in der Bundeswehr. Die Geistlichen sind Teil der Bundeswehr, aber haben keinen Rang, das heißt, von ihnen gehen keine Befehle aus. Felmberg sprach auch über die Verbindung der Soldatinnen und Soldaten zum Glauben. Gemäß den Ergebnissen einer Studie aus dem Jahr 2022/2023 fühle sich die überwiegende Mehrheit der Truppe mit einer Religionsgemeinschaft verbunden. Entscheidend sei die Situation, in der die Mitglieder der Truppe religiöse Angebote wie Gottesdienste, Andachten oder Seelsorge nutzen. So gehen etwa 60 bis 80 Prozent der Soldatinnen und Soldaten in einem Auslandseinsatz in Gottesdienste der Militärgeistlichen – während sie bei ihrer eigenen religiösen Praxis zurück in der Heimat weitaus zurückhaltender agierten. Dort, wo die Seelsorge nah am Menschen und seinen Bedürfnissen im Alltag ist, sei sie am erfolgreichsten, so Felmberg. Über den Zusammenhang zwischen Militär und Glauben, sagte er, es gebe keinen, außer, dass Soldatinnen und Soldaten in ihrem Glauben persönlichen Halt finden.
Der Schweizer Adolf Muschg, Schriftsteller und emeritierter Professor für deutsche Sprache und Literatur, sprach mit Roger de Weck am ersten Abend der Tagung über persönliche Erinnerungen zum Thema Religion und über “Religion, Staat und Kultur: die Drei-Potenzen-Hypothese”. Dieser Titel nahm die Überlegungen des Basler Kulturhistorikers Jacob Burckhardt (1818-1897) auf, die nach seinem Tod unter dem Titel “Weltgeschichtliche Betrachtungen” veröffentlicht wurden. Geschichte sei, erklärte Muschg, “ein fortwährendes Aneignen und Wiederabschütteln”. Alle drei Bereiche: Kultur, Religion, Staat und Kultur müssen in einer Gesellschaft in ihrer Widersprüchlichkeit vereint sein. Das Wichtigste sei, so Muschg, die Widersprüche nicht nur zu ertragen, sondern auszutragen. Das Schlimmste sei, wenn sich der Mensch nur auf eine Potenz beschränke. Als Ideal gelte, so Muschg, die Kategorie des Künstlers, der alle Potenzen in sich vereine, auch in ihrer Widersprüchlichkeit. Er fügte hinzu: “Das Christentum darf nicht nur, es muss voller Widersprüche sein.”
In seinem Vortrag “Gespaltene Gesellschaft? Über Integration und Polarisierung” gab Prof. Dr. Andreas Zick, Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG), Professor für Sozialisation und Konfliktforschung an Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld Professor und wissenschaftlicher Leiter der im April 2023 gegründeten Konfliktakademie ConflictA an der Universität Bielefeld, einen Überblick über die Ergebnisse seiner Studie “Die distanzierte Mitte”. Die Studie erschien 2023 im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (hier abrufbar).
In der Studie untersuchte Zick demokratiedistanzierte und desintegrative Orientierungen in der Mitte, vor allem in Richtung eines rechtsextremen Weltbildes. Mit Rechtsextremismus sind Einstellungen gemeint, die Sozialdarwinismus befürworten, fremdenfeindlich eingestellte Strukturen, Befürwortung einer Diktatur, Verharmlosung des Nationalsozialismus, Antisemitismus sowie auch völkischer und nationaler Chauvinismus. Als besorgniserregend bezeichnete Zick einen Anstieg der Zahlen des Graubereichs, das heißt Menschen, die mit Fragen nach den eben genannten Einstellungen mit “teils-teils”-Zustimmung antworteten. Im Jahr 2023 waren das 20 Prozent der Bevölkerung (8,3 Prozent vertreten ein rechtsextremes Weltbild) – und stellen einen überaus hohen Anstieg dar. Es seien Menschen, die oft sagen würden: “Das ist mir egal.” Zick ging auch auf die Auswirkungen dieser Haltung ein – wenn politisch motivierte Gewalt gebilligt wird oder wenn rechtsextremes Gedankengut akzeptiert und zur Normalität wird.
Hilflosigkeit und Hoffnung
Zick ging auch auf die Faktoren für Radikalisierung ein. Ein großer Faktor: Hilflosigkeit. “Radikale Gruppen brauchen hilflose Menschen”, sagte Zick. Faschismus brauche die Ohnmacht der Mitte. Die Veränderung in der Mitte der Gesellschaft sei auch krisenbedingt, so Zick. Dabei komme es auch auf die Wahrnehmung der Krisen an – die medial von verschiedensten Gruppen gezielt gesteuert wird. Das Internet funktioniere hier als “Radikalisierungsmaschine” (Kommunikationsmodell von Julia Ebner).
Sybille Giel, Journalistin beim Bayerischen Rundfunk, moderierte das Gespräch mit Prof. Dr. Meron Mendel (Publizist, Historiker, Pädagoge und Leiter der Bildungsstätte Anne Frank) und seiner Frau, der Politologin und wissenschaftlichen Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Saba-Nur Cheema.
“Der Tag beschäftigt uns bis heute”, sagte Saba-Nur Cheema während des Podiumsgesprächs, das den Titel “Muslime und Juden in Deutschland nach dem 7. Oktober” trug. (Das Gespräch ist als Bayern2-Podcast nachhörbar bzw. auf dem YouTube-Kanal der Evangelischen Akademie Tutzing). Das muslimisch-jüdische Paar berichtete, wie es den Tag erlebt hatte – und bis heute mit den politischen und auch persönlichen Folgen umgeht. Die Ereignisse hätten eine lange Vorgeschichte, berichtete Meron Mendel und ging auch darauf ein, warum der Konflikt in Gaza so viel weitere Konfliktstoffe beinhaltet – weltweit. “Der Nahostkonflikt ist identitätsstiftend für viele Menschen auf der Welt”, so Mendel. Der Konflikt funktioniere als eine Art Spiegelbild für viele Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen Gruppen. Mendel formulierte drei rote Linien in der öffentlichen Debatte um den Krieg in Gaza, die nicht übertreten werden dürfen: Erstens, die gegenseitige Anerkennung beider Staaten darf nicht angezweifelt werden, sowohl Palästina als auch Israel haben ein Existenzrecht. Zweitens, die Schuld kann nie allein auf einer Seite sein, das ist in keinem Konflikt der Fall. Drittens, es darf keine Holocaustvergleiche geben. Sowohl Cheema als auch Mendel sprachen von einer konstanten Muslimfeindlichkeit in Deutschland – neben einem wachsenden Antisemitismus. Beide plädierten für mehr Bildung, um der hohen Emotionalisierung in der Debatte mit Wissen zu begegnen. Es gehe beiden darum, nicht hinter einem Volk zu stehen, sondern humanistische Werte zu vermitteln.
Religionsunterricht und Finanzierungsfragen
Die religionspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion Sandra Bubendorfer-Licht MdB, sprach in ihrem Vortrag und in der anschließenden Diskussion mit den Tagungsgästen über die Aufgaben der Politik: abzulösende Staatsleistungen gegenüber den Kirchen, über die Dialektik der CSU (nicht nur) beim 219a StGB und auch über Tanzverbote, Missbrauchsskandale und ihre Idee eines “islamischen Kirchentags”. Sie sprach sich außerdem dafür aus, islamischen Religionsunterricht an Schulen anzubieten und appellierte an die Politik vor dem Hintergrund der anstehenden Europawahlen “beim Populismus auf die Bremse zu treten.”
Höhepunkt der Tagung war der Vortrag von Bundespräsident a.D. Christian Wulff. (Seinen Vortrag vom 16. März 2024 können Sie auf dem YouTube-Kanal der Akademie ansehen.) Wulff war von 2010 bis 2012 Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und hatte in dieser Zeit durch seine Aussage, dass der Islam ebenfalls zu Deutschland gehöre, heftigen politischen und medialen Gegenwind erfahren. Er plädiert nach wie vor für Vielfalt und Toleranz in der Gesellschaft, auch in seinem Vortrag im Politischen Club, der den Titel “Vielfalt statt Einfalt” trug. Deutschland profitiere von der Einwanderung, sagte Wulff. Er forderte, dass Deutschland offener mit Vielfalt umgehen sollte – daraus könnten Chancen erwachsen. Dafür seien auch die Bürger selbst gefordert, jeder und jede sollte sich engagieren. Er erinnerte an die Worte des Apostel Paulus: “Das Gemeinsame, nicht das Fremde ist entscheidend.” Vorbehalte könnten und sollten schon im Kindesalter abgebaut werden, in dem jeder Mensch lerne, dass verschiedene Religionen und Gruppen nebeneinander und miteinander friedlich leben können.
Christian Wulff warnte in seiner Rede ausdrücklich vor der AfD und warb dafür, sich intensiv mit den Inhalten auseinanderzusetzen, wie sie etwa der AfD-Europawahlkandidat Maximilian Krah in seinen Schriften verbreite, die sich nicht nur gegen die Moderne, sondern auch gegen Menschenwürde und geltendes Grundgesetz richten. “Die wollen ein anderes Land!” mahnte Wulff. Wulff bezeichnete Krah als fundamentalistischen Katholiken und forderte, in der Öffentlichkeit nicht nur über islamischen Fundamentalismus zu reden, sondern auch über christlichen. In der anschließenden Debatte mit dem Publikum kam die Frage auf, warum die AfD nicht verboten werde. Hier enthielt sich Wulff eines Votums und wies darauf hin, dass er sich als Altbundespräsident nicht einmische. Die Diskussion gehöre in den Bundestag und den Bundesrat. Die Zivilgesellschaft sei darüber hinaus gefordert, sich politisch auseinanderzusetzen und Debatten zu führen.
Entfremdungsprozesse von der Religion
Georg Löwisch, zum Zeitpunkt der Tagung Chefredakteur des „Christ & Welt“-Teils der Wochenzeitschrift “Die Zeit”, beschäftigte sich in seinem Vortrag “Dem Kaiser, was des Kaisers ist?” mit der gegenseitigen Entfremdung von Kirche und Politik. Beide hätten in der Öffentlichkeit ein “Nicht-Verhältnis”, lebten in voneinander getrennten Sphären. Er berichtete von seinen eigenen Erfahrungen als Journalist, der 2020 vom Politik-Ressort zur Redaktion von “Christ & Welt” wechselte und wie sich mit dem Verhältnis der Politik zur Religion auseinanderzusetzen begann. In vielen Fällen habe er beobachtet, dass sich Politikerinnen und Politiker nicht in der Öffentlichkeit zu ihrem Glauben äußern wollten – unabhängig davon, ob sie (noch) Mitglieder einer Kirche waren oder nicht. Löwisch: “Mein Eindruck ist, dass sich die Politik selbst stummschaltet, was das Christentum angeht. Und die Kirchen sind ebenfalls stummgeschaltet.” Zwar würden katholische und evangelische Bischöfe sich zu politischen Themen äußern, nur bliebe die Frage: Wo werden sie noch gehört? Ein einziges Mal sei christlicher Würdenträger 2023 in einer großen Talkshow eingeladen gewesen: der evangelische Berliner Bischof Christian Stäblein bei “Hart aber fair”. Das sei eine “absolute Ausnahme” gewesen. Es würde heutzutage zwischen Politik und Religion kein gemeinsames öffentliches Gespräch mehr stattfinden.
Warum das so ist, zeichnete Löwisch am Beispiel von Bodo Ramelow, dem Ministerpräsidenten von Thüringen, nach. Er war evangelisch getauft und konfirmiert worden, war als Jugendlicher ausgetreten und als Erwachsener trat er wieder in die Kirche ein. In seiner Partei Die Linke sei er damit oft angeeckt. Christ und Sozialist zu sein, für viele habe das ein Problem dargestellt. Ramelow dagegen sei ein Politiker, der die Differenz suche und sachlichen Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg gehe. Damit sei er jedoch eine Ausnahme. Für Löwisch ist dies symptomatisch: Es sei auch eine große Fremdheit entstanden zwischen Politik und Religion. “Früher habe man in Deutschland begründen müssen, warum man nicht in der Kirche ist. Und heute muss man begründen, warum man noch drin ist.”, so Löwisch. Dies spürten auch Politikerinnen und Politiker, die eine “saubere Projektionsfläche bieten” möchten. “Zu etwas, für das man sich rechtfertigen muss, pflegt man lieber ein Nicht-Verhältnis”, schließt Löwisch daraus. Kirche habe ihre “Bindekraft” in der Gesellschaft verloren – siehe auch die drastisch sinkenden Mitgliederzahlen. Hinzu käme das Entsetzen und die Enttäuschung über den Umgang mit Missbrauch und sexualisierte Gewalt innerhalb der Kirchen. Dies habe dazu geführt, dass die Kirchen “kaum mehr moralisches Kapital” besitzen. Bodo Ramelow, der Ministerpräsident von Thüringen, so berichtete Löwisch, beobachte ein Anknüpfen von völkischen, pseudoreligiösen Aktivitäten an die spirituellen Bedürfnisse der Menschen. Auch in Verschwörungserzählungen gehe es darum, etwas tief und fest zu glauben. Kommt nach der Volkskirche also eine völkische Kirche?, fragte Löwitsch zuspitzend. Im Februar 2024 sei in der katholischen Kirche schließlich etwas passiert: die Bischöfe erklärten, dass völkischer Nationalismus und Christentum unvereinbar sind. In ihrer Augsburger Erklärung hielten sie fest: die AfD ist unwählbar. Das Bemerkenswerte an der Erklärung: Das Grundgesetz verstehe das Volk nicht als Ethnos (Gemeinschaft der ethnisch oder kulturell Gleichen bzw. Ähnlichen), sondern als Demos, der Gemeinschaft aller Menschen. Hier sei ein Moment entstanden, der die Fremdheit zwischen Kirche und Politik überwunden habe. Dennoch bleibe die Entfremdung. Löwisch forderte in seinem Vortrag dazu auf, dass Politik erkennen muss, welcher Wert in der Auseinandersetzung mit der Kirche liege: Kirche stifte Gemeinschaft, gebe Menschen Sinn im Leben. Dies könne die Politik nicht leisten. Die Sprachlosigkeit zwischen beiden Seiten müsse überwunden werden: “Die Taktik, die Feigheit, sie müssen enden.”
Vom Affekt zum Effekt
Als weitere Rednerin auf der Tagung stellte die Literaturprofessorin Prof. Dr. Martina Wagner Egelhaaf von der Universität Münster (Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der Moderne und Gegenwartsliteratur & Münsteraner Exzellenzcluster “Religion und Politik”) in ihrem Vortrag “Figuren des Hasses” literarische Perspektiven im Spannungsfeld von Religion und Politik vor. Diese beleuchtete sie anhand mehrerer Beispiele aus Literatur, Theologie, Kunst und Journalismus, wie etwa “Der Kaufmann von Venedig”, der 139. Psalm der Bibel, das Deckengemälde im Thronsaal König Augusts II. im Dresdner Residenzschloss von Louis de Silvestre mit den Figuren Zwietracht, Neid und Hass, “Nathan der Weise” oder Gottfried Kellers “Der grüne Heinrich”. Dabei erläuterte sie den Begriff des Hasses, ging auf die methodische Problematik Wort versus Ding ein, beleuchtete den Begriff aus seiner emotional-psychologischen Perspektive, stellte das Verhältnis von Literatur zu politischem Hass dar sowie die Theatralität des Hasses. Hass als Emotionsbezeichnung sei zu einer politischen Vokabel geworden, so Wagner-Egelhaaf, die in vergangenen Jahren vermehrt im öffentlichen Diskurs auftauche und in dem “der Affekt einer Person zum Effekt der Sprache” transzendiere. Häufig gebe es religiös bedingten Hass wie Antisemitismus oder Antiislamismus. In ihrer Schlussbetrachtung fasste sie zusammen: “Literatur kann diese Probleme natürlich nicht lösen. Aber sie kann visualisieren, sensibilisieren, irritieren, Empathie erzeugen und dazu beitragen, die Bedingtheit von Standpunkten – auch und gerade des eigenen – zu reflektieren.”
Probleme benennen darf nicht allein Sache der Populisten sein
Den Abschlussvortrag hielt Prof. Dr. Mouhanad Khorchide. Er ist Leiter des Zentrums für Islamische Theologie, Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Münster und Mitglied im Münsteraner Exzellenzcluster “Religion und Politik”. Auf der Frühjahrstagung des Politischen Clubs sprach er über die Freiheitspotenziale des Islam und legte den Ansatz der islamischen Freiheitstheologie dar. Demnach findet die Beziehung zwischen Gott und Mensch nicht als Unterwerfung statt, sondern basiere auf Liebe. “Liebe als bedingungslose Zusage an den Geliebten setzt Freiheit voraus”, so Khorchide. Religiosität fasse er als dialogischen Prozess, der in der Bejahung des anderen stattfinde. Hier sieht er eine klare Verbindung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Das Dilemma des Islams in Deutschland liege in der Organisationsstruktur des Islams, der im Prinzip eine stark individualisierte Religion sei. Große muslimische Verbände und Organisationen seien vor allem aus politischen Gründen entstanden – theologisch gehörten sie derselben Schule an. Die liberalen Moslems seien dagegen in diesen großen Verbänden nicht vertreten. Das Problem im öffentlichen Dialog mit Vertreterinnen und Vertretern des Islam sei, dass deutsche Institutionen vor allem mit Vertretern der großen Verbände ins Gespräch treten würden – der Austausch mit liberalen Vertreterinnen und Vertretern fehle hier. Das müsse sich dringend ändern. Um liberalen Stimmen Ausdruck zu verleihen brauche es darüber hinaus eine unabhängige Ausbildung für Imame (zum Beispiel für Islamunterricht an Schulen) sowie Moscheen, die nicht von autoritären Staaten finanziert werden, sondern von unabhängigen Stellen. Hier kam unter anderem die Idee einer Moscheesteuer für Muslime ins Spiel. Wichtig ist Khorchide ein lösungsorientiertes Vorgehen, auch in Sachen Bildung. Außerdem plädierte er für einen “Dialog des kritischen Anfragens”. Die Gesellschaft müsse Probleme offen diskutieren und benennen, damit diese nicht nur von Populisten diskutiert – und instrumentalisiert – werden.
Dorothea Grass