Partizipation, Toleranz, Kritikfähigkeit – Die Zukunft der politischen Bildung
“Demokratie und demokratisches Handeln müssen fortlaufend gelernt und eingeübt werden. Dazu sind non-formale Bildungsangebote und außerschulische Lern- und Begegnungsorte besonders wichtig.”, schreibt Akademiedirektor Udo Hahn in der Ausgabe 02/2022 der Zeitung “Politik & Kultur” des Deutschen Kulturrats. Hier können Sie den Text nachlesen.
Ist die deutsche Gesellschaft gespalten? Und was ist in diesem Zusammenhang der Auftrag politischer Bildung? Die Klärung der beiden Fragen drängt sich nicht erst in der Pandemie auf, in der Querdenker, Impfgegner, Verschwörungsmystiker und Rechtsextreme sich gekonnt in Szene setzen. Belastungsproben für die Demokratie gab es schon zuvor zuhauf, ohne dass sie dauerhaft zum Verschwinden gebracht werden konnten bzw. können. Sie reichen vom Wiedererstarken des Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus bis hin zu einem geringer werdenden Vertrauen in die Politik generell. Parallel dazu wächst das Bedürfnis nach einfachen Antworten und die Sehnsucht nach raschen Lösungen, was wiederum populistische Strömungen fördert.
Die These der Spaltung der Gesellschaft stieß zuletzt auch dezidiert auf Widerspruch, etwa durch Bundeskanzler Olaf Scholz. Oder durch die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Annette Kurschus. Sie warnte davor, eine Spaltung nicht herbeizureden.
Wie auch immer man die Lage beurteilt, in einem dürfte Konsens bestehen: dass das Miteinander in unserer Gesellschaft Risse bekommen hat und brüchig geworden ist. Eine solche Situation ist nicht gänzlich neu. Die Geschichte der Bundesrepublik ist auch eine Geschichte gesellschaftlicher Krisen. Deutschland hat sich bislang als ausgesprochen resilient gezeigt. Zu danken ist dies u.a. der Unabhängigkeit der Justiz und der Medien, aber auch einer gut funktionierenden Zivilgesellschaft. Und den vielfältigen Bildungsanstrengungen. Diese sind keineswegs auf die Schule oder die berufliche Aus-, Fort- und Weiterbildung beschränkt. Hier kommt auch die politische Bildung in den Blick.
Als Begriff hat ihn in Deutschland erstmals Paul Rühlmann (1875-1933), Geschichtslehrer, Ministerialbeamter und Schulbuchautor verwendet. Er hatte 1908 die Einführung des Fachs “Politische Bildung” an Schulen gefordert. Die Notwendigkeit politischer Bildung findet sich schon bei Aristoteles und Cicero. Oder im ausgehenden Mittelalter, als sich mit der Reformation Martin Luthers und ihren Folgen eine öffentliche Meinung herausbildete und die die römisch-katholische Kirche die Deutungshoheit bzw. das Meinungsmonopol in religiösen Fragen verlor. Emanzipation, Humanismus, Aufklärung führen konsequenterweise zu politischer Bildung als einem Bereich der Bildung, der sich gleichermaßen auf den schulischen wie den außerschulischen Raum konzentriert und eine Gesellschaft als Ganzes in den Blick nimmt: als eine Verantwortungsgemeinschaft. Und damit das Zusammenleben gelingt, braucht es u.a. diese Elemente: Partizipation, Toleranz, Kritikfähigkeit. Dies sind zentrale Bestandteile politischer Bildung, die auf eine lebenslange, lebensbegleitende Dimension des Lernens zeigen. Und Strukturen verlangen, in denen dies eingeübt werden kann.
Um dies zu ermöglichen, braucht politische Bildung Kontinuität. Sie ist aber gefährdet aufgrund einer bereits seit Jahren zu beobachtenden Akzentverschiebung. Demnach verschiebt sich der Fokus mehr und mehr auf Extremismusprävention. Mit dem Ziel, den eingangs geschilderten gesellschaftlichen Gefährdungen wirkungsvoll zu begegnen. Darin liegt aber eine Verkürzung des Auftrags, wenn die Gefahrenabwehr zum zentralen Ansatz wird. Dies hat zuletzt auch der 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung erkannt, wenn er festhält, dass es beides braucht: Demokratieförderung und Extremismusprävention.
Politische Bildung hat die Aufgabe, zum Aufbau demokratischer, menschenrechtsorientierter Haltungen und Werte beizutragen. Dazu hat sich über die Jahrzehnte eine ausdifferenzierte Trägerlandschaft entwickelt, die die gesellschaftliche Pluralität widerspiegelt. Demokratie und demokratisches Handeln müssen aber fortlaufend gelernt und eingeübt werden. Dazu sind non-formale Bildungsangebote und außerschulische Lern- und Begegnungsorte besonders wichtig. Diese sind nur mit Hilfe einer dauerhaften, ausreichenden öffentlichen Förderung möglich. Der Ausbau von zeitlich befristeter Projektförderung – so sinnvoll dies auch sein mag –, ist jedoch kein Ersatz für eine Regelförderung. Gerade in einer Situation, in der sich z.B. auch bei den Kirchen Einsparungen in der Struktur ihrer Bildungsaktivitäten abzeichnen. Hier ist auf allen Seiten und auf allen Ebenen ein Umdenken.
Politische Bildung ist im Grundgedanken stärkenorientiert ausgerichtet. Sie will ermöglichen und unterstützen. Angebote der Extremismusprävention wollen Defizite beheben. In Krisen sind sie hilfreich, dürfen aber auf Kontinuität ausgerichtete Bildungsaktivitäten nicht ersetzen.
Neben den Forderungen nach außen ist aber auch der selbstkritische Blick nach innen wichtig – auf die Struktur und die Angebote politischer Bildung. Wenn die Förderung des Bewusstseins für Demokratie und politische Teilhabe im Mittelpunkt stehen, ist die Frage berechtigt, warum etwa die Demokratieskepsis in der Bevölkerung so hoch ist – in Ostdeutschland größer als im Westen. Ohne alle Anstrengungen politischer Bildung wäre sie wohl noch höher, ist durchaus zu vermuten. Zugleich braucht es mehr trägerübergreifenden Austausch und wissenschaftliche Begleitung in den Projekten, um sowohl Reichweite als auch Wirksamkeit zu steigern.
Udo Hahn ist Vorsitzender des Vorstands der Evangelischen Akademien in Deutschland e.V. und leitet die Evangelische Akademie Tutzing am Starnberger See.
Hinweis: Der Beitrag erschien in der Zeitung des Deutschen Kulturrates “Politik& Kultur” (2/22). Hier abrufen.