Orte, an denen keiner Recht haben muss

In seiner Kanzelrede am 10. Oktober sprach der Theaterintendant Ulrich Khuon über die verstörende Kollektiverfahrung des Kontrollverlusts, warum Sophokles‘ Drama “Ödipus” das Stück der Stunde ist und weshalb die Menschen nun vor allem eines brauchen: Orte des Zusammenkommens, an denen niemand Recht haben muss.

“Die Wahrheit beginnt zu zweit.” Unter diesen Titel hatte Ulrich Khuon, Intendant des Deutschen Theaters Berlin, seine Kanzelrede in der Münchner Erlöserkirche in Schwabing gestellt. Darin beschäftigte er sich mit der Rolle des Anderen für den Menschen. Schon vor der Corona-Pandemie sei “die Zeit, in der es den anderen gab, vorbei” gewesen. Er zitierte den Berliner Philosophen Byung Chul Han: “Der andere als Geheimnis, der andere als Verführung, der andere als Eros, der andere als Begehren, der andere als Schmerz verschwindet. Die Wucherung des Gleichen macht die pathologischen Veränderungen aus, die den Sozialkörper befallen.”

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie hätten die Vereinsamung und Vereinzelung vieler Menschen verschärft. Die Menschen seien überfordert gewesen durch zu viel Alleinsein oder durch die zwanghafte Dauervergemeinschaftlichung in Familien, durch Homeschooling und Homeoffice, sagte Khuon, der auch Präsident des Deutschen Bühnenvereins ist, weiter.

Vertrauens- und Kontrollverlust

Nicht selten seien die Vereinsamten diejenigen, die sich auf ein gemeinsames Ziel hin mobilisieren ließen – radikalisiert und verbunden in einem Zustand des Dagegenseins. Vor allem rechtspopulistische Strömungen und auch die Querdenker-Szene füge sich in dieses Bild ein. “Was viele von ihnen verband, war ein dumpfer, oft hasserfüllter Furor gegen die liberale Elite, die demokratischen Regeln, oder den eigenen Staat. Das war neu: Bewegungen, die nirgendwo hinwollten, allen misstrauten, auch den eigenen Leuten.” Michel Houellebecqs Werk “Serotonin” sei diesbezüglich ein Schlüsselroman.

Der zunehmende Vertrauensverlust in Politik und öffentliche Institutionen zeige sich beispielsweise darin, dass etwa vierzig Prozent der deutschen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister bereits Stalking, Beschimpfungen und Drohungen erlebt haben. Hier verbinde sich die Gereiztheit infolge der Corona-Pandemie mit einem Misstrauen, das fast allen Verantwortungsträgerinnen und -trägern gelte, sagte Khuon. Er betonte dabei aber auch, dass viele von ihnen durch Machtmissbrauch und Größenwahn ebenso große Mitverantwortung für den Vertrauensverlust tragen. Der Hochmut der einen befördere das Misstrauen der anderen. Was fehle, sei ein verbindendes Dach.

“Ödipus” – das Stück der Stunde

Darüber hinaus litten die Menschen durch die Corona-Pandemie unter der Erfahrung des Kontrollverlusts. “Die stillschweigende Voraussetzung, die das Leben von vielen prägt, man könne die Dinge des Lebens beeinflussen oder gar steuern, zerbrach von einem Tag auf den anderen”, sagte Khuon. Die vergangenen 18 Monate der Pandemie hätten auch den Blick auf den Mitmenschen sehr verändert. “Viele von uns spürten auf einmal, wir haben von der Welt, vom Großen und Ganzen, aber auch von den Menschen, die wir zu kennen glauben und schließlich von uns selbst – keine Ahnung.”

Sophokles’ mehr als 2000 Jahre altes Drama “Ödipus” bezeichnete Khuon als “Stück der Stunde”. “Nicht so sehr, weil die Pest in Theben wütet, wie bei uns das Sars-Virus, sondern, weil der Herrscher ‘Ödipus’ vollständig blind ist im Hinblick auf sein eigenes Handeln und vor allem auch dann noch auf seiner Blindheit besteht, als alle anderen von seinen Vergehen und seiner Schuld wissen. Überforderung, Unwissenheit und Nichtwissenwollen gehen Hand in Hand.”

“Wenn Menschen zusammenkommen, muss mit Wundern gerechnet werden.”

Ein Ort des Zusammenkommens, der Nähe und des Austauschs sei das Theater. Khuon: “Das Theater ist ein Ort, wo man nichts meinen muss, wo keiner Recht haben muss. Auch das Theater selbst muss nicht Recht haben. Es geht um die anderen und um jeden von uns selbst.” Insofern sei das Theater gleichsam ein “Ort des Dazwischen, eine Schwelle, die nach innen und nach außen führt.”, in der eine Vielfalt der Perspektiven zum Ausdruck kommt – über die sich allein nur die Welt erschließen lasse. Hier knüpfte Ulrich Khuon an einen Gedanken Hannah Arendts an, den Akademiedirektor Udo Hahn in seinen Begrüßungsworten zitiert hatte: “Wahrheit gibt es nur zu zweien.” Wenn es um Wahrheit gehe, so Hahn, brauche es mehr als nur das Selbstgespräch. Die Stimme des Anderen dürfe nicht fehlen. An dieser Stelle ähnele der Auftrag des Theaters durchaus der Akademiearbeit, die auf den Perspektivwechsel setze, damit Bildungsarbeit leiste – und dadurch Demokratie und Gesellschaft stärke.

Hahn fügte hinzu: “Diese Kultur- und Bildungsleistung braucht es heute mehr denn je. Wo sie fehlt, gedeihen Verschwörungstheorien, Hasskommentare, Lügen, Fake News, Propaganda, Desinformation und Manipulation. Diskursunfähigkeit ist ihre ungenießbare Frucht, die jede Begegnung vergiftet.” Was es nun brauche sei ein “Prozess der Entgiftung”, der auch im Theater stattfindet.

Ulrich Khuon beschrieb diesen Auftrag in seinem Schlusswort so: Die Wahrheit sei ein Prozess, kein Ergebnis. “Und darauf zielt auch jede Theatererfahrung: Die Erkenntnis der eigenen Gespaltenheit, die Begegnung mit den Anderen, dem Nicht-Ähnlichen.”

Hannah Arendt habe aus ihrem Gedanken gefolgert: “Wenn Menschen zusammenkommen, muss mit Wundern gerechnet werden.” Ulrich Khuon hat diesen Satz zum Motto der aktuellen Spielzeit am Deutschen Theater Berlin gemacht.

Dorothea Grass

Unter Verwendung von Material des Evangelischen Pressedienstes (EPD)

 

Hinweis:

Die Evangelische Akademie Tutzing veranstaltet gemeinsam mit ihrem Freundeskreis zweimal im Jahr Kanzelreden. Ihr Thema finden die Reden in jedem ernsthaft diskutablen Feld unseres gegenwärtigen geistigen, politischen, sozialen und kulturellen Lebens. An dieser Stelle haben schon viele Persönlichkeiten gesprochen: Joachim Gauck, Gesine Schwan, Heribert Prantl, Christian Stückl, Dieter Reiter, Harald Lesch, Christian Springer, Charlotte Knobloch, Ilse Aigner, Doris Dörrie und Mirjam Zadoff.

Bild: Ulrich Khuon am 10. Oktober 2021 in der Münchner Erlöserkirche (Foto: eat archiv)

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