Nacht.Leben
Unter dem Titel „Nacht.Leben“ veranstaltete Studienleiter Dr. Martin Held seine letzte Tagung und zugleich erste Nachtung. Martin Held geht zum Ende des Jahres in den Ruhestand, Anlass genug, noch etwas ganz Neues auszuprobieren.
Für dieses neuartige Format konnte er Philip Büttner vom Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt und Dr. Astrid Schilling von der Katholischen Akademie in Bayern gewinnen. An der Katholischen Akademie mit ihrer zentralen Lage in München-Schwabing fand die Nachtung statt. Eröffnet wurde sie zum Sonnenuntergang um 16.36 Uhr und beendet nach dem Frühstück am Samstagmorgen, nachdem man vorher noch einen eindrucksvollen Sonnenaufgang am Kleinhesseloher See genießen konnte. Überhaupt der Englische Garten: Eine nächtliche Exkursion führte dort hinein. Wer aber eine Art Zauberwelt wie bei „Nachts im Museum“ auch nachts im Park erwartet hatte, wurde ein bisschen enttäuscht. Keine Elfen oder Nachtmare, ja nicht einmal der Waldkauz ließ sich so recht hören. Statt dessen auch der nächtliche Eindruck erstaunlich urban: Der Himmel hell von der an der Wolkendecke reflektierenden Stadtbeleuchtung, der Mittlere Ring machte sich durch konstanten Verkehrslärm und manchmal ein aufheulendes Motorrad bemerkbar.
Weitere Exkursionen – zum Teil parallel angeboten – führten in das nächtliche Schwabing, in eine Zeitungsdruckerei und einen Bäckereibetrieb. Hier ließen sich die Nachtwerker über die Schulter schauen und erzählten zudem, was „Nachtschicht“ auf Dauer eigentlich heißt: Eben nicht nur bessere Bezahlung, sondern auch hohe soziale Kosten. Etliche zog es zudem zu den „Citynightscapes“. Darunter fassten Agnes Förster und Detlev Sträter, die diese Exkursion anregten und begleiteten, die Physiognomie der nächtlichen Stadt: Im künstlichen Licht (auch das ein Thema für Vortrag und Exkursion) bekommen Architektur, Brücken- und Straßenbauwerke ein durchaus anderes, ganz eigenes Gesicht, auf das bei der Planung meist zu wenig geachtet wird.
Bei einer Nachtung dürfen genau wie bei einer Tagung natürlich auch die wissenschaftlichen Vorträge nicht fehlen. Sie führten zum Beispiel ein in die „innere Uhr“ des Menschen oder, wer es fachlich mag, den circadianischen Rhythmus (Martha Merrow): geprägt von genetischen Faktoren, Alter, Geschlecht genauso wie vom Tag-Nacht-Wechsel. Und welcher Chronotypus sind Sie? Auch das konnte man herausfinden und mit den Nachbarn trefflich diskutieren, vielleicht auch ein Thema für die Partnerwahl …
Schließlich ist Zeit auch ein Politikum: Das machte der Vortrag von Thomas Kessler über Basels Umgang mit Nachtschwärmern, Vergnügungshungrigen und der „Normalbevölkerung“, die morgens in die Arbeit muss, besonders deutlich. Hier hat man gelernt, Interessen in Aushandlungsprozessen gegeneinander abzuwägen und gemeinsame Lösungen zu finden. Ob individuelle Zeiterfahrungen, wie sie Marc Wittmann in seinem Vortrag beschrieb, auf Dauer aber auch unsere Schul- und Arbeitszeiten verändern werden, darf man dagegen bezweifeln. Selbst die Sommerzeit, europäisch institutionalisiert, bleibt wohl unantastbar. (Dr. Ulrike Haerendel)
Ihre Eindrücke von der Nachtung schildert die Betreibsethnologin Dr. Ida Sabelis, Freie Universität Amsterdam, in nachfolgendem Bericht.
Dr. Martin Held auf seiner letzten Tagung, die eine Nachtung war, am Kleinhesseloher See in München.
(Foto: privat)