Nachruf auf Friedrich Schorlemmer
Als “ein Vorbild in unseren schwierigen Zeiten” beschreibt der frühere Studienleiter Willi Stöhr den eben verstorbenen Theologen Friedrich Schorlemmer. Beide lernten sich in den 1980er Jahren lernten und wurden Freunde. In diesem Nachruf erinnert sich Willi Stöhr an seine erste und viele weitere Begegnungen mit einer der Symbolfiguren evangelischer Bürgerrechtler.
Friedrich Schorlemmer habe ich 1982 nicht in Tutzing, sondern in der Gemeindeakademie Rummelsberg kennengelernt. Dort sprach er über die Situation der kirchlichen Friedensgruppen in der DDR, die wegen ihres Mottos “Schwerter zu Pflugscharen” mächtig unter Druck standen. Beim Kirchentag in Wittenberg 1983 hat er dann das Wort des Propheten Micha wörtlich genommen: Während seiner Bibelarbeit im Hof des Augustinerklosters, in dem schon Martin Luther gewohnt hatte, ließ er einen Schmied genau das tun: Vor Hunderten von Zuschauern – und den Augen der Stasi! – in aller Öffentlichkeit ein Schwert in einen Pflug umschmieden. Dass die Staatsmacht nicht eingriff, lag wohl daran, dass der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Richard von Weizsäcker, anwesend war und ein Kamerateam des ZDF filmte.
Bei der Tagung in Rummelsberg regte Schorlemmer Friedenspartnerschaften zwischen Christen in der DDR und der Bundesrepublik an. Dies war der Beginn unserer Freundschaft, die mich auch mit anderen Wittenbergern wie Eva und Lothar Löber zusammenbrachten, die nach der Wende die Restaurierung der zerfallenen Cranach-Höfe in die Hand nahmen. In den folgenden Jahren trafen wir uns jährlich und tauschten uns aus. Obwohl Schorlemmer wusste, dass er unter Beobachtung stand, nahm er kein Blatt vor den Mund. Unvergessen ist mir, als er an einem Abend in seiner Wohnung plötzlich ziemlich laut wurde und rief: “Das sage ich jetzt für euch zum Mitschreiben!” – damit meinte er die Stasi, von der er vermutete, dass sie ihn abhörte. Es folgten Ausführungen zur Schlussakte von Helsinki, die die DDR unterschrieben hatte, an die sie sich aber nicht hielt.
1985 durfte Friedrich Schorlemmer ein zweites Mal in die Bundesrepublik reisen. Damals machte er Station in München und Tutzing. Ich nahm ihn am Hauptbahnhof in Empfang und ging mit ihm durch die Stadt, deren überquellendes Warenangebot ihn mehr als irritierte. Das änderte sich erst, als wir im Tutzinger Schlosspark saßen und über die Unterschiede von Akademiearbeit diesseits und jenseits der Mauer redeten. Kurz vor seiner Abreise sprach er plötzlich von seiner größten Angst: dass man ihn – wie einst Wolf Biermann – nicht mehr in die DDR einreisen lassen und von seiner Familie und seiner Kirche trennen würde. Glücklicherweise kam es dazu nicht. Daher konnte er am 4. November 1989, bei der großen Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz, als einziger Vertreter der evangelischen Kirche klar Position beziehen zu den notwendigen Veränderungsprozessen in der DDR – und zur Gewaltlosigkeit aufrufen: “Lasst die Geister aufeinanderprallen, aber nicht die Fäuste!” Wie Martin Luther, in dessen Wohnung er bis nach der Wende wohnte, war er sich bewusst, dass er keine andere Macht hatte als die des Wortes. Diese aber hatte er und nutzte sie. Das machte ihn zu einer Symbolfigur der evangelischen Bürgerrechtler.
Es wäre falsch zu verschweigen, dass wir während des Vereinigungsprozesses zuweilen unterschiedlicher Meinung waren. Das betraf vor allem Fragen der Reform der DDR oder grundsätzlich zur Wiedervereinigung, des Religionsunterrichts in Schulen oder der Militärseelsorge in der Bundeswehr. Dabei wurde deutlich, dass er sich, wie nahezu alle Bürgerrechtler, anfangs nicht vorstellen konnte, dass die Kirche wirklich frei und unabhängig sein kann in einer Demokratie, geschützt durch die Verfassung. Dennoch konnte er wenig später sagen, dass der Fall der Mauer und das Ende der DDR zu den glücklichsten Erfahrungen seines Lebens gehören.
Anders als Joachim Gauck zog es Friedrich Schorlemmer nicht in die große Politik. Er blieb seiner Heimatsstadt Wittenberg als Stadtrat sowie seiner Kirche als Theologe und Pfarrer treu. Vom Predigerseminar wechselte er in die Evangelische Akademie und leistete, dank seiner vielfältigen Kontakte in Politik, Wissenschaft und Kultur, eine herausragende Arbeit. Walter Jens, Wim Wenders und viele andere waren ebenso seine Gäste wie Johannes Rau, der ihm als Bundespräsident zu seinem 60. Geburtstag persönlich gratulierte. Auch wenn es in den letzten Jahren stiller um ihn geworden war, meldete er sich mit zahlreichen Büchern zu zeitgeschichtlichen Entwicklungen zu Wort. Bei seinen Lesungen füllte er weiterhin die Säle, was ich in der Evangelischen Stadtakademie Nürnberg immer wieder erlebt habe.
Inhaltlich hat mich Friedrich Schorlemmer einmal überrascht, als er ein Buch über Albert Schweitzer schrieb, den er ein “Genie der Menschlichkeit” nannte. Zuletzt habe ich ihn vor einem knappen Jahr in einem Berliner Pflegeheim besucht, wo er schon gezeichnet war von seiner schweren Krankheit. Er sagte von sich, sein Leben sei “in vielem nicht leicht, aber reich” gewesen. Dass er trotz allem gegenüber Freund und Feind stets immer auch so etwas wie ein Genie der Menschlichkeit geblieben ist, kann man nur bewundern und macht ihn zum Vorbild in unseren schwierigen Zeiten.
Willi Stöhr
Über den Autor
Willi Stöhr ist Pfarrer im Ruhestand und war von 1983 bis 1991 war Studienleiter in der Evangelischen Akademie Tutzing. Danach wurde er persönlicher Referent des Landesbischofs, Leiter der Versöhnungskirche in der KZ Gedenkstätte Dachau und von 2005 bis 2016 Leiter der Evangelischen Stadtakademie Nürnberg. Er ist Mitglied im Leitungsteam des örtlichen Freundeskreises Evangelische Akademie Tutzing e.V. in Tutzing.
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Im März 2024 berichtete Willi Stöhr über seine Recherchen zur Stasiakte der Evangelischen Akademie Tutzing. Aus diesem Vortrag ist eine Publikation entstanden, die in der Reihe “EPD Dokumentationen” erschienen ist. Mehr dazu hier
Bild: Willi Stöhr (rechts im Bild) bei seinem Vortrag am 13. März 2024 in der Evangelischen Akademie Tutzing, bei dem er auch über seine Begegnung mit Friedrich Schorlemmer sprach, siehe großes Foto auf der Leinwand. (Foto: dgr/eat archiv)