Lob des Kompromisses
Konsens und Kompromiss – zwei Begriffe, die kaum besser den Charakter der Demokratie und das Wesen der Bundesrepublik Deutschland beschreiben könnten. Konsens heißt Übereinstimmung – und Kompromiss beschreibt das Ergebnis eines Prozesses, der Übereinstimmung zum Ziel hat. Eigentlich ist das etwas Gutes. Steckt doch dahinter die Überzeugung, dass ein Konflikt gemeinschaftlich gelöst werden kann. Es gab Phasen in der deutschen Geschichte, in der Konsens und Kompromiss mit allen Mitteln bekämpft wurden: im Nationalsozialismus und unter der SED-Herrschaft. Die Folgen sind bekannt.
Vor diesem Hintergrund ist die Bundesrepublik Deutschland der erklärte Gegenentwurf. Eine Gesellschaft, die schon immer mit massiven Konflikten zu kämpfen hatte – der es aber gelungen ist und hoffentlich weiter gelingen wird, diese Konflikte politisch und auch sozial verträglich auszutragen. Wo dies geschah und geschieht, bleibt meist eine Ambivalenz – eine Mehrdeutigkeit eben und keine Eindeutigkeit. Das genau gehört zum Wesen der Demokratie. Und es ist ihre Stärke. Ihre Stärke bleibt es aber nur dann, wenn über den Wert des Konsenses auch weiter Konsens besteht.
Hier zeichnen sich seit geraumer Zeit Veränderungen ab. Diese Beobachtung hat jetzt die Kammer für öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland motiviert, zehn Impulse zu formulieren. Sie tragen den Titel „Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung“. Schon mit dem Titel wehrt sie sich gegen den unterschwelligen Vorwurf , als führe der Konsens automatisch zur Lähmung. Dass Deutschland nach wie vor eine Konsensgesellschaft ist, belegen übrigens Meinungsumfragen immer wieder klar. Demnach missbilligen sogar zwei Drittel der Deutschen Streit, wenn er vehement, ungezügelt und ungehemmt sich artikuliert.
Genau dies aber kennzeichnet zunehmend die Debatten. Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, nennt in seinem Vorwort zum Papier der Kammer für öffentliche Verantwortung die Gründe: Die Gesellschaft ist nicht mehr so homogen wie früher. Hinzu kommt, dass Populismus in der Parteienlandschaft und in der Gesellschaft insgesamt zugenommen hat. Und die Nutzung der digitalen Medien trägt zu einer ungeheuren Beschleunigung der Debatten bei und hat zu einer teilweise erheblichen Brutalisierung des Tons der Auseinandersetzung geführt. Bedford-Strohm folgert daraus: „Stärker als früher müssen wir uns darauf einstellen, dass manche Konflikte bleibend sein werden. Umso mehr stellt sich für alle gesellschaftlichen Kräfte die Aufgabe, am Zusammenhalt der Gesellschaft mitzuwirken.“
Das ist der Prüfstein für die aktuellen und kommenden Auseinandersetzungen in unserem Land. Und für wohl notwendige und auch schmerzliche Grenzziehungen. „Mit denen, die das demokratische System in seinem Kern angreifen möchten, gilt es nicht, den Dialog zu suchen, sondern ihnen ist entgegenzutreten“, heißt es in dem Impulspapier. Es gibt zugleich zu bedenken: „Da die Grenzen hier fließend sind, muss bei Gesprächen sehr sorgsam unterschieden werden: zwischen den Sorgen und Ängsten der Menschen, die zur Sprache … gebracht werden müssen, und einer in diesem Kontext vorgebrachten, bewussten Grenzüberschreitung, mit der die Grundlagen der politischen Kultur verschoben werden.“
Diese Regeln für eine demokratische Streitkultur müssen verteidigt werden – von allen gesellschaftlichen Institutionen und von den Bürgerinnen und Bürgern. Der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer hat 1997 in einem Essay ein „Lob des Kompromisses“ angestimmt: „In der Praxis des Kompromisses artikuliert sich die Freiheit. Es sind die Kompromisslosen, die unsere Freiheit bedrohen, nicht die Kompromissbereiten“, so Sontheimer.
Dass wir unsere Freiheit aufs Spiel setzen – das kann doch eigentlich niemand wirklich wollen.