Jean Asselborns Festrede zum Jahresempfang 2019
Meine Damen und Herren, wir haben in den vergangenen Jahren lernen müssen, dass die Schwächen unserer Nachbarn unsere eigenen Schwächen sind und das Ereignisse in unserer unmittelbareren Nachbarschaft signifikante Konsequenzen für uns haben können.
Die Balkanstaaten sind, in gewissem Sinne, der Vorgarten der Europäischen Union. Diesen Garten gilt es zu pflegen, auch um zu vermeiden, dass andere Akteure ihren Einfluss dort ausweiten.
Aus diesem Grund sind die Stabilisierungs- und Assoziierungspolitik der EU und die europäische Integration der Balkanstaaten in meinen Augen so wichtig. Sie tragen entscheidend dazu bei, die Region positiv zu beeinflussen und Reformen voranzutreiben. Die Umsetzung von Reformen ist eine fundamentale Bedingung für die Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses der Balkanländer. Der Rhythmus der EU-Integration hängt von den Reformfortschritten des jeweiligen Beitrittskandidaten ab.
Es ist unbestreitbar, dass sich die europäische Perspektive für die Balkanstaaten positiv auf deren Entwicklung auswirkt. Die EU muss alles dransetzen, dass die sechs Balkanstaaten auch selbst zu sich finden, wirtschaftlich, kulturell und sozial, damit die Vorurteile abgelegt werden können.
Ein Lichtblick in Bezug auf gutnachbarliche Beziehungen im Balkan sind die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien und Griechenland. Das Abkommen bezüglich der Namensfrage ist ein wichtiges Zeichen dafür, dass Probleme auch auf dem Verhandlungsweg gelöst werden können.
Die Entwicklungen in der Türkei der vergangenen zwei, drei Jahre kann man zweifellos als turbulent bezeichnen: gescheiterter Putschversuch im Juli 2016 und darauffolgende massenhafte Verhaftungen, Entlassungen und zerschlagene Existenzen; das Ausrufen des Ausnahmezustandes; ein Verfassungsreferendum ein Jahr später, vorgezogene Präsidentschaftswahlen am 24. Juni 2018, die es Präsident Erdogan erlaubt haben, seine Macht zu zementieren, und zahlreiche Zerwürfnisse der Türkei mit europäischen Partnern.
Bei der Gründung des Europarates, der Organisation, die sich für den Schutz der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in Europa einsetzt, war die Türkei ein verlässlicher Partner. Genau dieser Schutz lässt in der Türkei heute jedoch definitiv zu wünschen übrig, eine Entwicklung, die äußerst bedauerlich und besorgniserregend ist. Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte sind nicht verhandelbar, auch nicht mit einem wichtigen Partner. Es ist daher völlig konsequent, dass die Beitrittsverhandlungen mit Ankara derzeit auf Eis liegen.
Einen Hoffnungsschimmer konnte ich bei meinem offiziellen Besuch Anfang dieser Woche in Ankara erkennen. Im Gespräch mit dem türkischen Außenminister deutete sich der politische Wille an, in der Frage der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere der Unabhängigkeit der Justiz mit dem Europarat und der Venedig-Kommission erneut zusammenzuarbeiten. Konkrete Resultate in Sachen Unschuldsvermutung von tausenden Menschen in Untersuchungshaft sind jetzt gefordert.
Die Türkei ist strategisch extrem wichtig im hochkomplexen geopolitischen Kontext. Dass sie dies im positiven Sinne sein kann, beweist die Türkei mit der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen. Wir sollten nicht vergessen, dass die Türkei mehr als vier Millionen Flüchtlinge, davon 3,5 Millionen aus Syrien, bei sich aufgenommen hat. Dafür gebührt ihr unser Respekt und unsere Unterstützung.
Dass jedes Jahr 60.000 syrische Kinder in der Türkei auf die Welt kommen verdeutlicht das Ausmaß dieser Herausforderung.
Wie sich ihr Einfluss in Syrien und in der Region nach dem angekündigten Abzug der US-Truppen aus Syrien entwickelt, wird sich zeigen. Das syrische Volk hat im Grunde genommen schon viel zu viele Militäroperationen ertragen müssen mit mehr als 400.000 Todesopfern. Mit Ausnahme des Kampfes gegen Daesh ist jede weitere Kriegshandlung eindeutig zu viel.