Jean Asselborns Festrede zum Jahresempfang 2019
Die Gefahr eines Bruchs innerhalb der Eurozone ist mittlerweile gesunken, trotzdem müssen wir weiterhin wachsam bleiben. Weitere Anstrengungen mit Blick auf eine Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion müssen also wieder auf die Tagesordnung.
Die deutsch-französische Meseberg-Erklärung vom 19. Juni 2018 war diesbezüglich ein wichtiger Schritt nach vorn. In einem gemeinsamen Fahrplan für das Euro-Währungsgebiet haben Deutschland und Frankreich Schritte zur Vertiefung der Währungsunion vorgestellt. Ob EWF, Eurozonenbudget oder Bankenunion – wir müssen rasch handeln, damit wir für nächste Krisen gewappnet sind.
Ein starkes deutsch-französisches Tandem ist nach wie vor eine Grundvoraussetzung für wirkliche Fortschritte in Punkto Währungsunion. Die Erwartungen an die Bundesrepublik Deutschland sind besonders groß. In vielen Teilen Europas erwartet man sich von Deutschland – nicht ganz ohne Ungeduld – ein stärkeres Bekenntnis zu einer Vertiefung der Währungsunion – im Sinne einer zeitnahen Umsetzung der Meseberg-Erklärung und darüber hinaus. So bedeutend eine inhaltliche Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich ist, so entscheidend ist es aber dennoch, dass sämtliche EU-Mitgliedstaaten gestalterisch mitmachen und auch bereit sind, einen Beitrag zu leisten.
Die EU sollte unverzüglich die notwendigen Schritte unternehmen, um den Euroraum dauerhaft widerstandsfähiger zu machen. Wir sollten das Dach reparieren solange die Sonne noch scheint. Darüber hinaus, sollten wir im Rahmen der angestrebten Reformen unbedingt auch die soziale Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion stärken. Die Zukunft der Währungsunion sollte meines Erachtens zu den zentralen Themen gehören, über deren Umsetzung im Rahmen des Gipfels in Sibiu am 9. Mai 2019 Bilanz gezogen wird. Dies wäre ein positiver Impuls vor den Europaparlamentswahlen.
Meine Damen und Herren, es ist in gewissem Sinne eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet das Mitgliedsland, welches die EU immer in erster Linie als Wirtschaftsprojekt gesehen hat, das Vereinigte Königreich, sich entschieden hat, diese zu verlassen.
Die Entscheidung des Vereinigten Königreichs ist schon ein verrücktes Unterfangen. Wir verlieren einen wichtigen Partner. Und die Briten werden in der Welt schwächer, da isolierter, sein. Imperien waren im 19. Jahrhundert möglich und strahlten Stärke aus. Sie sind es allerdings nicht mehr in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts.
Die britische Entscheidung hat uns alle in den letzten Jahren viel Energie gekostet und wird auch wirtschaftliche Kosten verursachen. Nach mehr als anderthalbjähriger Verhandlung liegt ein Austrittsabkommen vor, in dem beide Parteien mehr oder weniger bedeutende Konzessionen machen mussten. Die EU ist ganz klar bis an die Grenze des Vertretbaren gegangen, um einen geordneten Austritt des Vereinigten Königreichs ermöglichen zu können. Sowohl die EU, als auch die britische Regierung sind sich einig, dass das nun vorliegende Abkommen das Bestmögliche ist.
Nach der bitteren Niederlage im britischen Parlament am Dienstagabend, bleibt es jedoch schwer absehbar, wie die Lage sich im Vereinigten Königreich entwickeln wird. Das britische Parlament ist sich in zwei Punkten einig: erstens dass es das Austrittsabkommen in dieser Form nicht will, und zweitens dass es auch ein „No Deal“-Szenario vermeiden möchte.
Die Frage, die im Referendum vom 23. Juni 2016 gestellt wurde, war schwarz-weißer Natur: remain or leave?
Nun, die Antwort auf diese Frage ist mit schwarz oder weiß nicht zu finden, auch nicht nach einer 17-monatigen Suche. Brexit ist Brexit, ja, aber wie? Das britische Volk wartet nun auf einen gangbaren Weg, so auch die EU. Vielleicht wissen wir am Montag mehr, wenn die britische Premierministerin May ihre Position im Unterhaus vortragen wird.
Wir sollten der Realität ins Auge blicken: Das Risiko eines ungeordneten Austritts ist mit dieser Abstimmung gestiegen, und obwohl wir dies noch unter allen Umständen vermeiden wollen, müssen wir uns nichtsdestotrotz die Vorbereitungen weiter vorantreiben. Diese Aufgabe nehmen die Mitgliedstaaten zusammen mit der Europäischen Kommission sehr ernst und die nötigen Vorbereitungen wurden intensiviert. Ich denke hier vor allem an Flug-, Schiffs- und Eisenbahnverkehr, aber auch zum Beispiel die Versorgung mit Medikamenten und vieles mehr.
So sehr wir den Brexit auch bedauern, so hat er vielen Europaskeptikern doch, so glaube ich, vor Augen geführt, was man an der EU hat, beziehungsweise was einem ohne die EU fehlen würde.
Meine Damen und Herren, so wichtig die internen Herausforderungen auch sind, denen sich die EU stellen muss, so sollten wir auch die Rolle der EU in der Welt nicht vergessen. Die Zusammenarbeit innerhalb der EU hilft uns dabei, uns in der globalisierten Welt zu behaupten. Mit gebündelter Souveränität und einer starken Wirtschaft können wir einfach mehr bewegen!
Auch hier lohnt ein Blick auf die Zahlen: Während im Jahr 1900, die europäische Bevölkerung noch ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachte, waren es im Jahr 2017 nur noch 6,8 Prozent. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts stellen die Europäer nur noch gut fünf Prozent der Weltbevölkerung dar. Ich denke, jedem muss klar sein, was diese unumkehrbare demographische Entwicklung bedeutet: Damit die EU ein relevanter und souveräner Akteur auf der Weltbühne bleiben kann, müssen wir uns gemeinsam – und zwar mit einer gemeinsamen Stimme – den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellen! Zusammenhalt ist demnach nicht nur eine politische und wirtschaftliche, sondern auch eine demographische Notwendigkeit!
Die EU ist der größte Handelspartner und der wichtigste ausländische Investor für nahezu jedes Land der Erde. Gemeinsam investieren wir mehr in die Entwicklungszusammenarbeit als der Rest der Welt zusammengenommen. Die Europäische Union kann zurecht stolz auf ihre „Soft Power“ sein. In vielen Regionen der Welt gilt die EU als Vorbild der regionalen Zusammenarbeit und der Völkerverständigung. Auch darauf können wir stolz sein.
Es wird von uns erwartet, dass wir eine Rolle spielen.