Jean Asselborns Festrede zum Jahresempfang 2019
Hinzu kommt jetzt noch ein rechtsstaatliches Problem. Der EuGH hat im September 2017 die zwei Relocation-Entscheide von 2015 bestätigt. Er legte fest, dass man die Migrationslast nicht nur den Eintrittsländern Griechenland und Italien, oder auch den Ankunftsländern Deutschland oder Schweden überlassen kann. Bis heute verweigern sich die Neinsager jedoch, dieses rechtlich verpflichtende Urteil umzusetzen. Wie in einer Diktatur werden die Richter ignoriert, in diesem Falle sogar unsere höchsten Richter.
Wenn wir eine Dublin-Reform meistern wollen und, wie es in einer Gemeinschaft sein sollte, den Druck, dem Eintrittsländer in Krisenzeiten ausgesetzt sind, mindern wollen, dann führt kein Weg an einer automatischen Verteilung vorbei, auch wenn man in bestimmten Umständen verschiedenen Mitgliedstaaten Ausnahmeregeln zugestehen könnte.
Zurzeit gibt es aber nur wenig Fortschritte. Schlimmer, am Beispiel der 300 gestrandeten Menschen auf Malta, zeigt sich, dass maximal zehn Mitgliedstaaten bereit sind, sich solidarisch einzubringen. Sind wir wieder ein Europa der egoistischen Nationalstaaten geworden? Sind wir ein Europa geworden, das Migration in all seinen Formen im 21. Jahrhundert verleugnet?
Oder sind wir ein Europa, das sich organisiert, um denen Schutz zu geben die vor Krieg oder Verfolgung fliehen müssen, ein Europa, das es hinbekommt, die Menschen in ihre Heimatländer zurückzuführen, die aus wirtschaftlicher Not ihre Heimat verlassen mussten, und partnerschaftlich hilft bessere Lebensbedingungen vor Ort zu schaffen? Ein Europa, das legale Wege für Einwanderung aufbaut, ohne dass Schlepper das Schicksal der Menschen bestimmen, ohne dass sie ihr Leben aufs Spiel setzen müssen ? Ein Europa, das nicht vergessen hat, dass wir vor nicht allzu langer Zeit die „Getriebenen“ waren und die Vertreiber nicht nur von außen agierten, sondern auch von innen.
Im anstehenden Europaparlamentswahlkampf sind wir alle gefordert. Migration riskiert dort von den Rechtsnationalisten als Übel unserer Zivilisation dargestellt zu werden: Das können und dürfen wir nicht zulassen!
Jenen, die sich dem Rechtspopulismus verschrieben haben und die die offene Gesellschaft auf dem Altar ihrer Abschottungstheorien zerstören möchten, muss mit starken Argumenten Einhalt geboten werden.
Wir müssen handeln, nicht nur wegen des unabdingbaren Respekts vor der Genfer Flüchtlingskonvention, deren Geist sich die EU verpflichtet hat, auch wegen des Überlebens von Schengen, einem einzigartigem EU-Besitzstand, dem größten Erfolg für die Befürworter Europas neben dem Euro.
Ich kann nur hoffen, dass es in naher Zukunft genug politische Köpfe gibt, aber auch Journalisten, Menschenrechtler, NGO’s, Kirchenvertreter, Gewerkschaftler, engagierte Bürger, die einsehen, dass Leute vom Schlag eines Orban, Salvini, Le Pen, AfD, Lega, Schwedendemokraten und anderer, nicht das Sagen haben dürfen. Dass jene, die sich in Europa dem Geist der 1930er Jahre verschreiben; jene, die uns sogenannte „einfache“ Lösungen vorgaukeln, wo langfristiges und überlegtes Handeln erforderlich ist, nicht wieder federführend bekommen dürfen.
Unsere Kinder und Enkelkinder brauchen eine EU, die auf den Werten der Menschlichkeit, der Offenheit, des Respektes, kurzum auf der europäischen Demokratiekultur begründet ist.
Das Gegenteil wäre eine nicht wieder gutzumachende politische Sünde.
Meine Damen und Herren, zurück zu der Frage, wo die Reise hingehen soll.