Jean Asselborns Festrede zum Jahresempfang 2019
Es ist heute sinnvoll, in Erinnerung zu rufen, dass die nachfolgenden Jahrzehnte nicht immer konfliktfrei waren. Es war jedoch immer allen Teilnehmern klar, dass ein Scheitern keine Option sein konnte. Und mit den Erinnerungen an die Gräuel des Zweiten Weltkrieges noch präsent, schaffte man es auch jedes Mal, sich zusammenzuraufen und im Laufe der Jahrzehnte ging das europäische Projekt aus jeder Krise gestärkt hervor. Diese Leistung wurde 2012 mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt.
Ich will hier beileibe nichts schönreden: in den Verhandlungen in Brüssel wird durchaus mit harten Bandagen gekämpft, aber zum Glück eben nur am Verhandlungstisch, mit den Methoden der Diplomatie. Das macht die EU einzigartig. Darauf sollten wir stolz sein. Diese Errungenschaft darf nicht zerschlagen werden !
In den vergangenen Monaten sind jedoch Zweifel an der Ausrichtung des europäischen Projekts geäußert worden, ja gar an dessen Daseinsberechtigung. Soldatenfriedhöfe sind für viele Jugendliche Zeugen einer Vergangenheit, die längst bewältigt ist. Frieden ist in ihrer Betrachtung so selbstverständlich wie Sauerstoff in der Luft. Ob dies tatsächlich so ist?
Der aktuelle internationale Kontext, der ausufernde Populismus, die Desinformationskampagnen, wie auch die egoistische Philosophie des „America First“ bergen Risiken gegenüber dieser auf der Integration und dem Multilateralismus basierenden Friedensgarantie. Wir dürfen uns hier nichts vormachen!
Wenn die Interessen im Zwischenstaatlichen höher angesiedelt werden als die gemeinsamen Werte, auch im Innern der EU, ist dies Grund zur Sorge. Das Streben nach kurzfristigen Vorteilen, oft auf Kosten anderer, ist mit einem auf gegenseitigem Respekt und rechtsstaatlichen Strukturen aufgebauten Multilateralismus einfach nicht vereinbar.
Wenn in Mitgliedstaaten der EU die Normen des Rechtsstaates verwässert werden, wenn die Medien schreiben müssen, denken müssen, was die Regierung selbst geschrieben und gedacht hätte, wenn die Justiz eingeschüchtert wird von der Regierung, wenn Richter Urteile fällen müssen, die den Interessen von Regierungsparteien Rechnung zu tragen haben, wenn die elementarsten Menschenrechte von Minderheiten nicht geachtet werden, dann meine Damen und Herren, ist dies keine Freiheit in unserem europäischen Sinne.
Erlauben sie mir hier Rosa Luxemburg, deren hundertsten Todestages wir kürzlich gedacht haben, zu zitieren, die in ihrem Essay zur russischen Revolution schrieb: „(…) dass [Freiheit] ohne freie, ungehemmte Presse, Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei, (…) keine Freiheit [ist]. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“
Die Freiheit der Andersdenkenden kann aber nur in einem Rechtsstaat gewährleistet werden. Die Achtung der Grundwerte der Europäischen Union einschließlich der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, so wie sie in Artikel 2 des EU-Vertrags festgehalten sind, gehört zu den Kernpflichten eines jeden Mitgliedstaates.
Leider werden diese Prinzipien zurzeit in einigen Mitgliedstaaten zunehmend in Frage gestellt. So bleibt die Lage in Polen nach wie vor besorgniserregend – vor allem im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Justiz und die Gewaltenteilung. Trotz aller Bemühungen, insbesondere seitens der Europäischen Kommission, ist es bisher nicht gelungen, die polnische Regierung wirksam zum Einlenken zu bewegen. Ich befürchte, dass vor allem die Bürger die Leidtragenden dieses Abbaus des Rechtsstaates sein werden. Das sogenannte Artikel-7-Verfahren zur Verteidigung der Rechtstaatlichkeit muss auf jeden Fall weitergeführt werden. Es geht hier um unser aller Glaubwürdigkeit!