Jahresempfang Begrüßungsrede Akademiedirektor Udo Hahn
Es gilt das gesprochene Wort!
Jahresempfang der Evangelischen Akademie Tutzing am 17.1.2019
Begrüßung
Pfarrer Udo Hahn, Akademiedirektor
Sehr geehrte Damen und Herren,
Ihnen allen ein herzliches Willkommen zum Jahresempfang 2019 der Evangelischen Akademie Tutzing!
Erlauben Sie mir bitte, dass ich einige Gäste namentlich begrüße: (…)
Dass Sie alle unserer Einladung gefolgt sind, erfüllt uns mit großer Freude. Wir sehen darin ein Zeichen der Verbundenheit mit unserem Haus – und eine Wertschätzung unserer Arbeit.
Der Übergang, so definiert es der Duden, ist ein Überqueren, ein Überschreiten, ein Hinübergehen. Mit dem Wechsel des Kalenderjahres fand vor kurzem ein solcher Übergang statt. Die Bedeutungsbreite des Begriffs ist jedoch umfassender. Der Übergang, so beschreibt es der Duden, ist zugleich auch der Wechsel zu etwas anderem, zu etwas Neuem, in ein anderes Stadium. Im Lichte dieser Definition werden wir wohl alle nachdenklich, wenn wir auf die Entwicklungen in unserem Land und in Europa schauen und die Nachrichten aus aller Welt zur Kenntnis nehmen.
Aber was genau nehmen wir wahr? Den Übergang vom politischen Populismus zur Stimmungsmache auf der Straße? Den Übergang von demokratischem Diskurs und Pluralismus zu Angriffen und Attacken auf Andersdenkende und Andersaussehende – und das nicht mehr nur mit Worten? Den Übergang vom Rechtsstaat zur Selbstjustiz? Und schließlich: Den Übergang von der Demokratie zu – ja, zu was denn?
Unsere Gesellschaft ist von Verunsicherung geprägt. Wohin geht also die Entwicklung? Der Glaube an die Stabilität der Strukturen, die bisher als absolut verlässlich galten, hat Risse bekommen. Ganz grundsätzlich gefragt: Ist ein so komplexes System wie unser Staat des Grundgesetzes zukunftstauglich? Auf den ersten Blick wirkt er robust. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, er ist stabil und fragil zugleich. Bisherige Krisen konnten stets gemeistert werden. Die Verknüpfung aller Elemente, die die Funktionsfähigkeit garantiert, klappte. Unsere Demokratie verfügt über eine entsprechende Selbststeuerfähigkeit. Und sie ist anpassungsfähig an Veränderungen. Bisher war das jedenfalls so.
Komplexität ist nicht per se die Ursache für Probleme. Krisen entstehen immer durch Vereinfachung. Beziehungsweise dadurch, dass die Komplexität nicht verstanden oder gar geleugnet wird. Wer sich mit Systemtheorien beschäftigt, erkennt, dass es eine gewisse Robustheit der Strukturen braucht, um in Krisen bestehen zu können. Mehr noch als Robustheit ist Resilienz nötig – eine Widerstandsfähigkeit, die entsteht, wenn man aus Krisen lernt, also die Fähigkeit entwickelt, durch Störungen hindurch wieder aufgerichtet weitergehen zu können.
Es gibt übrigens noch eine Steigerung von Resilienz. Der Begriff heißt Emergenz und kommt aus dem Lateinischen, wörtlich übersetzt: auftauchen, emporsteigen, herauskommen. Emergente Systeme sind nicht nur zur inneren Wandlung fähig, sondern zugleich auch innovativ. Wenn man so will: die Selbstorganisation in ihrer besten Form, praktisch unzerstörbar.
Ist Deutschland, ist Europa in der beschriebenen Weise emergent? Mir scheint, die Antwort auf diese Frage hängt vom Blickwinkel ab. Meines Erachtens schauen wir gegenwärtig zu sehr auf die Entwicklungen vor einhundert Jahren, und dann vor allem auch mehr auf den Weg in den Untergang als auf die bemerkenswerten Aufbrüche 1918/19: etwa die Etablierung einer demokratischen Verfassung und Wahlen, bei denen erstmals alle, auch Frauen, wählen durften. Um nicht missverstanden zu werden: Es ist von großer Bedeutung, die Ursachen für das Scheitern der Weimarer Republik zu verstehen und die richtigen Schlüsse für unsere Zeit daraus zu ziehen. Wenn wir den Blick nur auf die Katastrophe richten, werden wir weder Weimar noch unserer Zeit gerecht, in der wir über die politische Zukunft Deutschlands in Europa mitbestimmen.
Ich empfehle deshalb den Blick auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die Gründung des Bundesrepublik Deutschland vor siebzig Jahren und die Entwicklung seither in Europa. In dieser Geschichte liegt für mich der Vergewisserungsgrund, dass auch die aktuellen Krisen überwunden werden und wir gemeinsam an der europäischen Vision von Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden erfolgreich arbeiten können. Lassen Sie uns mehr auf das schauen, was gelingt und weniger auf das, was nicht gut läuft. Der Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gibt mir jedenfalls die Zuversicht, darauf zu vertrauen, dass die Kräfte, die letztlich für ein Aus für Demokratie stehen, keine Chance haben.
Der Erfolg der Demokratie hat mit zwei Begriffen zu tun, die zugleich für eine Haltung stehen: Konsens und Kompromiss. Konsens heißt Übereinstimmung – und Kompromiss beschreibt das Ergebnis eines Prozesses, der Übereinstimmung zum Ziel hat. Das ist etwas Gutes. Steckt dahinter doch die Überzeugung, dass ein Konflikt gemeinschaftlich gelöst werden kann – trotz unterschiedlicher Interessen. Der Soziologe Georg Simmel rechnete den Kompromiss deshalb zu den größten Erfindungen der Menschheit. Diese Auffassung war nie unumstritten, denn in den Tugendlehren ist der Kompromiss negativ besetzt. So hat sich in der deutschen Sprache zum Begriff „Kompromiss“ das Eigenschaftswort „faul“ hinzugesellt.
Dabei ist die Bundesrepublik Deutschland ein gutes Beispiel, wie es gelingen kann, Konflikte politisch und auch sozial verträglich auszutragen. Wo dies geschah und geschieht, bleibt meist eine Ambivalenz – eine Mehrdeutigkeit und keine Eindeutigkeit. Das gehört zum Wesen der Demokratie. Und es ist ihre unübersehbare Stärke. Ihre Stärke bleibt es aber nur dann, wenn über den Wert des Konsenses auch Konsens besteht.
Hier zeichnen sich seit geraumer Zeit Veränderungen ab – und ihre Auswirkungen. Nach wie vor ist Deutschland eine Konsensgesellschaft. Das belegen Meinungsumfragen klar. Demnach missbilligen zwei Drittel der Deutschen Streit, wenn er vehement, ungezügelt und ungehemmt sich artikuliert. Genau dies aber charakterisiert zunehmend die Debatten. Deshalb müssen die Regeln für eine demokratische Streitkultur verteidigt werden – von allen gesellschaftlichen Institutionen und von den Bürgerinnen und Bürgern.
Die Evangelische Akademie Tutzing ist ein Ort, an dem dies geschieht. „Der Weg der Reflexion ist der Weg des Kompromisses“ – Worte der portugiesischen Schriftstellerin Agustina Bessa-Luis, die unseren Auftrag treffend beschreiben. Bei uns wird seit mehr als siebzig Jahren, das eingeübt, was der Politikwissenschaftler Andreas Püttmann als die „schönsten Früchte des Christentums“ beschrieben hat: Empathie, Demut und Gelassenheit. Wo sie in der Gesellschaft zur Entfaltung kommen, wirken sie segensreich. Empathielosigkeit, Hybris und Dauererregtheit, so nennt Püttmann die Früchte der Populisten, sie wirken hingegen verheerend, wie wir sehen.
Der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer, einst Leiter des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing, hat 1997 in einem Essay ein „Lob des Kompromisses“ angestimmt: „Dieses Lob gründet auf meiner Überzeugung, dass ein Kompromiss, welche Fehler ihm auch anhaften mögen, höher steht als eine Anordnung oder ein Befehl, die ein Ausfluss von Gewalt sind. In der Praxis des Kompromisses artikuliert sich die Freiheit. Es sind die Kompromisslosen, die unsere Freiheit bedrohen, nicht die Kompromissbereiten“, so Sontheimer.
Dass wir unsere Freiheit aufs Spiel setzen – das kann niemand ernsthaft wollen. Deshalb muss es uns jetzt gemeinsam gelingen, den Übergang zu schaffen vom Zuschauen zum Handeln.
Noch einmal: Seien Sie uns alle herzlich willkommen – vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Nun darf ich den Leiter der Staatskanzlei, Dr. Florian Herrmann, ans Rednerpunkt bitten. Er ist Staatsminister für Bundes- und Europaangelegenheiten und Medien – und überbringt das Grußwort für die Bayerische Staatsregierung. Danach spricht Landesbischof Bedford-Strohm.