Interview mit Annette Kurschus
“Wir sind trotz klarer Positionen nicht die Mehrwisser und Besserwisserinnen”: Im Interview mit dem Diskurse-Newsletter der Evangelischen Akademien in Deutschland spricht Dr. h. c. Annette Kurschus, Vorsitzende des Rates der EKD, über die Aufgabe der Evangelischen Akademien und erläutert, warum sie “an der Logik der Hoffnung arbeiten”.
Diskurse: Frau Dr. Kurschus, Sie sind Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und im November letzten Jahres zur Ratsvorsitzenden der EKD gewählt worden. Was kommt Ihnen als Erstes in den Sinn, wenn Sie an die Evangelischen Akademien denken?
Annette Kurschus: Seit vielen Jahren gehen von den Evangelischen Akademien wichtige Impulse aus für den Glauben, für notwendige Veränderungsprozesse, für den Frieden, für Fragen von Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit – um nur einige der Themenfelder zu nennen. Von den Impulsen profitiert zuallererst die Kirche, darüber hinaus haben auch Politik und Gesellschaft ihren Gewinn davon.
Wenn man die Vielzahl evangelischer Werke, Einrichtungen und Institutionen betrachtet: Worin besteht aus Ihrer Sicht der spezifische Beitrag der Evangelischen Akademien?
Es ist der Konnex von Glauben und Denken, von Hoffen und Diskutieren, für den es Evangelische Akademien braucht. In Evangelischen Akademien wird die Kunst geübt, Glauben und religiöse Überzeugung in die Sprache der Öffentlichkeit zu übersetzen, ohne dabei ihren Gegenstand zu profanisieren. Hier wird versucht, das kritische Potenzial der Bibel einzubringen und theologische Reflexion auszuwerten für den Austausch der Argumente. Solche Kunst ist zuerst eine Kunst des Zuhörens, ja mehr noch eine Kunst des Hinhörens. Unter den Bedingungen einer pluralistischen Demokratie muss sich jede Auskunfts- und Hoffnungsaufgabe gleichberechtigt vollziehen, das heißt auf Augenhöhe mit allen anderen Akteuren der Zivilgesellschaft. Das entspricht zugleich dem inneren Kern des Evangeliums, dass jeder Mensch zur Freiheit berufen ist und zum Selbstsein in Beziehung.
Sie haben mal gesagt, dass Evangelische Akademien für Sie sowohl “Faktor” als auch “Forum” sind. Was meinen Sie damit?
Unsere Akademien sind ein Forum für echte und wirklich plurale Diskurse. Diese Funktion ist in einer Zeit, in der die politischen und gesellschaftlichen Lager immer geschlossener und sprachlos untereinander werden, nicht hoch genug einzuschätzen. In unserer Gesellschaft braucht es Räume, in denen mit dem Anspruch an möglichst große Wahrhaftigkeit faktenbasierte Diskurse möglich sind. In den unzähligen Talkshows werden solche Diskurse ja meist nicht wirklich geführt, sondern lediglich inszeniert bzw. simuliert oder sie bleiben in den Echokammern und kommunikativen Blasen der sozialen Medien selbstreferentiell.
Darüber hinaus sind die Akademien auch ein “Faktor”. Nicht im Sinn der kirchlichen Einflusssicherung, sondern als Ausdruck gesellschaftlicher Verantwortung. Wo Glaube und Kirche in aktuelle Diskurse eintreten, da tun sie das mit klaren Positionen, d. h. sie tun es in erkennbarer Orientierung an den Aufgaben und Zielen kirchlicher Weltverantwortung. Die Evangelischen Akademien bündeln positionelle und auch anwaltliche Arbeit zu wichtigen Brennpunkthemen wie z. B. in der Friedenspolitik, der Antirassismusarbeit, in der Asylpolitik, in der Klima- und Energiepolitik, zu Konfliktthemen der Landwirtschaft oder zu Fragen einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Dazu gehört, dass mit “offenen Karten” gespielt wird und die kirchliche Positionierung klar zu Wort kommt. Dabei darf sie nicht absolut gesetzt werden, vielmehr steht sie selbst zur Diskussion. In allen diesen Fragen sind wir trotz klarer Positionen nicht die Mehrwisser und Besserwisserinnen.
Welche Themen stehen für Sie für die kommenden Jahre im Zentrum evangelischer Diskurse?
Ein wichtiger gemeinsamer Aspekt für die kommenden Jahre und Jahrzehnte scheint mir in der Begleitung der großen gesellschaftlichen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Transformation zu liegen, die sich mit der Abwendung einer drohenden Klimakatastrophe verbindet. Hier stehen wir am Beginn einer Dekade tiefreichenden Wandels, der alle Lebensbereiche betreffen wird. Dies kann nur mithilfe einer konsequenten und ambitionierten Transformationspolitik geschehen. In sämtlichen Wirtschafts- und Lebensbereichen (Industrie, Energieversorgung, Mobilität, Wohnen, Lebensstil) muss jetzt ein Umsteuern beginnen. Hier sehe ich zahlreiche Bereiche, in denen disruptive gesellschaftliche Entwicklungen drohen, wenn es nicht gelingt, kluge, zentral an “Gerechtigkeit” und ambitioniertem Klimaschutz orientierte Prozesse einzuleiten. Der Klimaschutz ist aus meiner Sicht aktuell die zentrale Frage von Gerechtigkeit. Und hierfür braucht es – dies spüren wir im Industrieland Deutschland auf besondere Weise – Technologiediskurse, Diskurse über den Umbau der Industrie und Strukturpolitik. Es braucht Diskurse über soziale Gerechtigkeit, über Daseinsvorsorge, sozialgerechte Stadt- und Quartiersentwicklung, bezahlbares klimagerechtes Wohnen und die Rolle von Kirche und Zivilgesellschaft in klimaverträglichen Städten und Dörfern. Und es braucht Diskurse über das, was Hartmut Rosa vor einiger Zeit eine “spirituelle Abhängigkeitserklärung” genannt hat: also über die Wurzeln des Überkonsums und über eine Ethik des Genug.
Was möchten Sie den Evangelischen Akademien heute mit auf den Weg geben?
Evangelische Akademien benennen das Notwendige, diskutieren das Mögliche und halten im Auge und im Gespräch, was unbedingt verändert werden muss. Ihre Stärke ist die Beteiligung vieler. Nur gemeinsam kann die anstehende gesellschaftliche Transformation gelingen. Wo Menschen aktiv beteiligt werden, weichen Ängste und wachsen Kräfte. Evangelische Akademien arbeiten an der Logik der Hoffnung. Es ist eine Hoffnung, die ihre Kraft aus dem christlichen Glauben schöpft. Aber sie ist in uns, sie will zu Gesicht kommen und zur Begegnung werden. Und so zum Segen für die Welt, in der wir leben.
Über Annette Kurschus:
Die heutige Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) wurde am 14.2.1963 in Rotenburg an der Fulda geboren und ist in einem Pfarrhaus im hessischen Obersuhl und in Siegen aufgewachsen. Sie studierte ab 1983 in Bonn, Marburg, Münster und Wuppertal Theologie. Ab 1989 war sie Vikarin und dann Gemeindepfarrerin in mehreren Siegener Kirchengemeinden. 2005 wurde sie Superintendentin des Kirchenkreises Siegen. Seit 2012 steht Präses Annette Kurschus als erste Frau an der Spitze der Evangelischen Kirche von Westfalen, der viertgrößten Landeskirche in Deutschland. Die Westfälische Wilhelms-Universität hat ihr im Januar 2019 die Ehrendoktorwürde der Evangelischen Theologie verliehen. Seit November 2015 war sie stellvertretende Vorsitzende des Rates der EKD, seit 2016 zudem Beauftragte des Rates der EKD für die Beziehungen zu den polnischen Kirchen. Am 10.11.2021 wurde sie zur Ratsvorsitzenden der EKD gewählt.
Hinweis: Dieses Interview erschien am 21. Februar 2022 im Diskurse-Newsletter der Evangelischen Akademien in Deutschland (hier abrufen). Den Newsletter abonnieren können Sie unter diesem Link.
Wir danken der Redaktion für die Erlaubnis, das Interview hiermit auch auf unserer Homepage veröffentlichen zu dürfen.
Bild: Annette Kurschus (Foto: EKD / Jens Schulze)