“Insekten sind systemrelevant!”
Von weiten Teilen der globalen Bevölkerung unbemerkt sterben weltweit immer mehr Tier- und Pflanzenarten aus, mit weitreichenden Konsequenzen für Mensch und Umwelt. Woran das liegt, welchen Einfluss dabei der einzelne Mensch nehmen kann und welche Rolle der Verzicht spielt, darüber sprach Akademiedirektor Udo Hahn in einer Online-Diskussion mit einem der Autoren der ZDF-Satiresendung “Die Anstalt”, Dr. Dietrich Krauß, und dem Biologen Dr. Steffen Scharrer.
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Abholzung der Regenwälder, Ausbreitung von Monokulturen und global wachsender Pestizideinsatz machen vielen Wildtieren zunehmend das Leben schwer. Die Konsequenz: 94 Prozent der Landtiere sind heute Nutztiere, und Millionen von Arten vom Aussterben bedroht. Durch die komplexen ökologischen Zusammenhänge zwischen den Arten wird die sinkende Biodiversität auch mehr und mehr ein Problem für das Überleben der Menschen, wie sich unter anderem an sinkenden Ernteerträgen durch schrumpfende Bienenpopulationen zeigt.
In ihrer jüngsten Ausgabe vom 2. November 2021 befasste sich die ZDF-Satiresendung “Die Anstalt” mit den Themen Biodiversität, Artensterben und der Wechselwirkung des als “Homo Oeconomicus” wirkenden Menschen mit seiner natürlichen Umwelt. Diese Folge hatte ein etwas ungewöhnliches Format: “Die Anstalt” als Dokumentation über sich selbst, in der die beteiligten Charaktere das Gesagte kommentierten. Dabei wurden auch Problematiken des gesellschaftlichen Diskurses und der politischen Handlungsfähigkeit angeschnitten und das Spannungsfeld zwischen Politik, Wirtschaft und Ökologie zur Sprache gebracht.
Im Nachgang zur aktuellen Ausgabe der Sendung vertiefte Akademiedirektor Udo Hahn im Gespräch mit Dr. Dietrich Krauß, einem der Autoren der Sendung, sowie mit dem Geowissenschaftler und Diplom-Biologen Dr. Steffen Scharrer, die Themen der Sendung. Dabei ging es vor allem um drei zentrale Fragen: Wie können Anreize für Verantwortliche aussehen, Maßnahmen zum Artenschutz umzusetzen? Was kann getan werden, um das gesellschaftliche Bewusstsein für die Thematik zu erhöhen? Und welche Rolle spielt das Handeln jedes einzelnen Menschen?
Die drei Gesprächspartner begannen ihren Austausch mit der Verknüpfung der Frage nach der Biodiversität mit der drängenden Klimafrage. Sowohl Dietrich Krauß als auch Steffen Scharrer zeigten sich wenig überzeugt von der gegenwärtigen Strategie der weltweit politischen Entscheidungsträger, sich Ziele für einen bestimmten Zeitraum zu setzen, die nötigen Maßnahmen dafür allerdings nur mit unzureichender Konsequenz zu formulieren. Sowohl zum Thema Klima als auch beim Artenschutz werden zwar immer wieder internationale Abkommen unterzeichnet. Bei letzterem jedoch liege es häufig noch mehr an der Zivilgesellschaft, auf das Problem aufmerksam zu machen und konkrete Maßnahmen tatsächlich einzufordern, während die Politik sich mit “Pseudolösungen” begnüge, wie Dietrich Krauß es formulierte.
“Wir brauchen die Landwirte”
Die Gesprächspartner waren sich einig: Um endlich ernsthaften Artenschutz betreiben zu können, müssten Anreize für Unternehmen geschaffen werden und vor allem die Landwirtschaft stärker in die Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Denn, so beschrieb es Steffen Scharrer, auch Landwirte seien von einer intakten Umwelt und einer reichhaltigen ökologischen Vielfalt abhängig. Umgekehrt führe auch für die Politik und die Umweltverbände kein Weg an ihnen vorbei: “Wir brauchen die Landwirte”, so brachte Scharrer es auf den Punkt. Schließlich seien sie es, die maßgeblich die Grünflächen in Deutschland erhalten und vor Versiegelung schützen, denn mehr als 50 Prozent der Fläche Deutschlands sei Agrarland. Man müsse also mehr auf die einzelnen Landwirte zugehen, den Dialog und gemeinsame Interessen ausloten. Häufig verlangten Landwirtinnen und Landwirte, so Scharrer, nurmehr eine transparentere Kommunikation und bessere Planungssicherheit, sie seien aber grundsätzlich kooperationsbereit. Dietrich Krauß pflichtete dem bei und fügte hinzu, dass hier das Problem maßgeblich bei der Politik liege. Diese definiere nur vage Ziele, bei der konkreten Umsetzung wirksamer Maßnahmen allerdings sei sie zu zaghaft und unwillens, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Auch Steffen Scharrer wünschte sich “ein ähnlich starkes Engagement für die Bienen wie für die Banken 2008”.
Daraufhin kam die Online-Debatte auf die Frage zu sprechen, wie es um das gesellschaftliche Bewusstsein zum Thema Biodiversität steht und wie sich der gesellschaftliche Druck auf Politik und Wirtschaft erhöhen ließe. Dietrich Krauß betonte an dieser Stelle das grundsätzliche Problem ökologischer Prozesse: Meist fänden sie schleichend statt und im Falle des Artensterbens häufig auch an fernen Orten. Das erschwere es den Menschen erheblich, ihr Bewusstsein dafür zu schärfen. Auch Steffen Scharrer sieht darin ein Grundproblem. Obwohl Fragen der Biodiversität und des Klimawandels menschheitsbestimmend seien, seien ihre Auswirkungen scheinbar unsichtbar und nicht ohne weiteres als die ernsten Bedrohungen wahrnehmbar, die sie darstellten.
An dieser Stelle sieht Dietrich Krauß die Medien in der Pflicht: Die aktuelle Nachrichtenwelt sei eine kurzfristig orientierte, die die langfristigen Entwicklungen – seien sie noch so dramatisch – nicht adäquat behandle. Das müsse sich grundlegend ändern. Zudem sei eine falsche mediale Gewichtung anderer Themen, wie beispielsweise Entwicklungen am Finanzmarkt, etwa gegenüber dem Thema Biodiversität zu beobachten. Hinzu komme die Entkopplung der Menschen von ihrer natürlichen Umwelt. Diese führe unter anderem dazu, dass Menschen, die sich für Umwelt- und Artenschutz einsetzten, häufig noch als „schrullige“ Nerds mit einer übermäßigen Begeisterung für ein Nischenthema angesehen würden. Das sei fatal: Die tiefgreifende Verwobenheit des Menschen mit seiner Umwelt sei zentral für sein Überleben.
Was können Verbraucherinnen und Verbraucher ausrichten?
Auch Steffen Scharrer wünscht sich mehr Aufklärung über die weitreichenden Konsequenzen, die das derzeitige Artensterben mit sich bringt. Hierbei sieht er die Umweltverbände in der Verantwortung, an Orten des öffentlichen Lebens verstärkt Aufklärungsarbeit zu leisten. Allerdings gebe es auch Anlass zu verhaltenem Optimismus, wie sich am Volksbegehren “Rettet die Bienen” in Bayern aus dem Jahr 2019 gezeigt habe. Millionen Menschen hatten hier für besseren Artenschutz unterschrieben und damit die Politik zum Handeln gezwungen.
Doch welchen Einfluss haben Verbraucherinnen und Verbraucher überhaupt auf das Artensterben? Dietrich Krauß sieht die Wurzel des Problems in der Lebensmittelproduktion. Hier müsse vornehmlich mit Gesetzen, Regularien und Verboten angesetzt werden. Andere Maßnahmen, die die Konsumierenden mehr in die Pflicht nähmen, wie etwa eine Einberechnung der ökologischen Kosten eines Produkts, könnten allenfalls ergänzend zu einem ordnungsgesetzlichen Rahmen wirken. Krauß hofft auf eine sozial gerechte Verbindung aus konsequenter und zielgerichteter Gesetzgebung auf der einen, und einem Mentalitätswandel in der Bevölkerung auf der anderen Seite. Das Ziel sollte sein, so Krauß, die Debatte über die Verantwortung der Verbraucherinnen und Verbraucher nicht ohne Berücksichtigung der Sachzwänge sozial schwächerer Menschen zu führen. Schließlich hätten “auch arme Menschen kein Interesse an einer zerstörten Lebensgrundlage”. Das “böse Wort Verzicht” müsse deshalb wieder Platz in der Diskussion finden. Zumal sich die Überlegung ergäbe, ob unser Verzicht auf Luxusprodukte zugunsten der Lebensgrundlage anderer Menschen wirklich als solcher bezeichnet werden sollte, so Krauß.
Steffen Scharrer warb für ein gesünderes und gleichberechtigtes Verhältnis des Menschen mit der Natur, indem er sich seiner Rolle als Teil der natürlichen Kreisläufe versteht. Die Beziehung Mensch-Natur sei ein Geben und Nehmen, das fehlende Verständnis vieler Menschen für die eigene Abhängigkeit von einer intakten Umwelt müsse sich erst noch aufbauen. Allerdings sieht er Graswurzelprojekte und Ansätze im Kleinen als einen nützlichen Beitrag zum Artenschutz, auch weil sich auf der lokalen und individuellen Ebene einiges erreichen ließe. Dietrich Krauß betonte an dieser Stelle den Einfluss, den Menschen mit ihrer Wahl nehmen können: “Es macht einen Unterschied, wer regiert!”
Zum Abschluss der Online-Veranstaltung fragte Moderator Udo Hahn seine Gäste nach ihren Erwartungen an die neue Bundesregierung. Steffen Scharrer betonte seinen Optimismus, dass sich mit der neuen Regierungskoalition etwas ändern könnte und beteuerte seinen Wunsch nach einer weniger wirtschaftsorientierten Artenschutzpolitik. Dietrich Krauß machte keinen Hehl aus seiner Sorge, dass die Politik im derzeitigen Stadium der “Endkonfusion” bezüglich Corona nicht wirklich in der Lage sei, internationalen Verpflichtungen zum Artenschutz gerecht zu werden und Verantwortung für die Zukunft des Lebens auf diesem Planeten zu übernehmen.
Beat Ostermeier
Hinweis:
Die Evangelische Akademie Tutzing hat in Zusammenarbeit mit der Ökologin Saskia Ostner ein Konzept entwickelt, um dem Artensterben im Rahmen ihrer Möglichkeiten entgegenzuwirken. Mehr dazu in Folge 11 des “Seefunken”-Podcast oder in diesem ausführlichen Bericht (mit Bildergalerie).
Mehr zum Thema:
Die Masterarbeit zur Biodiversität im Tutzinger Schlosspark von Saskia Ostner finden Sie hier.
Lesen Sie hier den Nachhaltigkeitsbericht und die Umwelterklärung der Evangelischen Akademie Tutzing.
Bild: Online-Debatte am 18. November 2021: Akademiedirektor Udo Hahn, Steffen Scharrer und Dietrich Krauß (Bild: eat archiv)