Frühlings-Romantik

Der April beginnt in diesem Jahr mit Ostern. Das Fest der Feste für alle Christinnen und Christen erzählt sowohl von Abgründen als auch von Hoffnung, von Unmenschlichem und Menschlichem. In seinem Gastbeitrag schreibt Christian Kopp, Regionalbischof im Kirchenkreis München, von den Herausforderungen, die in diesem Monat auf uns warten, wie wir ihnen begegnen können – und was ein Schmetterling damit zu tun haben könnte.

Von Christian Kopp

Dieses Mal sind sie echt – die Delfine in Venedig. Videos von Tümmlern in der Lagunenstadt hatten schon im vergangenen Jahr kursiert, damals noch als Fake. Ein Jahr später gehen nun echte Aufnahmen vom Markusplatz viral. Ein Delfinpaar besucht die leere Touristenstadt. Und verzaubert die Menschen, die sie filmen: Das Leben findet einen Weg. Sogar an den ungewöhnlichsten Orten. Selbst wenn alles schon seit über einem Jahr stillsteht.

Noch wurden keine Delfine im Starnberger See gesichtet. Doch auch in Tutzing keimt in diesem April das Leben wieder auf: Die ersten Schmetterlinge tanzen über die Wiesen des Schlossparks. Junge Blätter leuchten an den Bäumen und süße, wohlbekannte Düfte streifen ahnungsvoll das Land. Mich zieht es nach draußen, in die Berge und auf die Wiesen. Ich freue mich über alles, was dort blüht und summt: Hier ist lauter Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.

Und doch will auch 2021 keine rechte Frühlings-Romantik aufkommen. Diese bunte und vielfältige Natur steckt zwar voller Lebensfreude. Doch menschenfreundlich ist sie nicht unbedingt. Sie kann auch ohne uns bestehen. Sie erobert sich den Lebensraum zurück, den die Erbauer der Lagunenstadt dem Meer einst abgerungen hatten. Der Tod scheint in Venedig nur gerne eine besonders starke Ästhetik zu entwickeln. Diese Natur hat ein Virus hervorgebracht, das mit großem Lebenswillen keimt und mutiert. Wir können ihm unsere hochkulturellen Errungenschaften entgegensetzen, doch wir bleiben ihm auch dann noch ausgeliefert.

Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ist zutiefst religiös. Im Hintergrund der Delfin-Videos aus Venedig erkenne ich die Kuppel von Santa Maria della Salute, einer Votivkirche aus den Zeiten der Pest. Unsere Kirche ist genau da besonders gefragt, wo sie Angebote zur Deutung und Orientierung macht. Das war schon immer so. Und im vergangenen Jahr wurde es besonders deutlich. Dazu brauchen uns die Menschen in der Krise, das fordern sie von uns. Und das wissen sie auch zu schätzen. Unsere Kirche findet mit vielen guten und kreativen Ideen neue Wege für ihre Botschaft: Gottesdienste zum Mitnehmen, Podcasts für Spaziergänge, Tagungen per Zoom.

Doch es geht um noch viel mehr als nur um Kontingenz-Bewältigung. Gerade in diesem Monat. Denn am 18. April wird die zentrale Gedenkfeier des Bundespräsidenten für die Todesopfer der Pandemie stattfinden und von zahlreichen großen und kleinen Gottesdiensten begleitet werden. Zugleich steht die ökumenische Woche für das Leben in diesem Jahr unter dem Motto “Leben im Sterben”. Doch vor allem beginnt dieser April mit dem Osterfest.

Für uns Christinnen und Christen ist Ostern das Fest der Feste. Es ist das volle Leben, die ganze Tiefe und Breite des Menschlichen und Unmenschlichen. Ganz ohne Kitsch führt mir der Karfreitag die Abgründe des Lebens vor Augen: Verrat, Leid und Tod. Und einen Gott, der aus lauter Liebe zu uns das auf sich nimmt. “Fürwahr, er trug unsre Krankheit” heißt es bei Dieterich Buxtehude. So wird Gott solidarisch mit uns Menschen. Und überwindet den Tod, indem er sich ihm aussetzt.

Was zu Ostern mit Jesus geschieht hatte Basilius der Große einmal mit der Verwandlung eines Schmetterlings verglichen: Aus dem starren und dunklen Kokon befreit sich ein farbenprächtiger Falter. Er schwingt sich in den Himmel und tanzt in den Sonnenstrahlen. Was vorher war, das können wir ganz hinter uns lassen, wir sind eine neue Kreatur. Und ein Wunder der Natur.

Christinnen und Christen hoffen auf die Auferstehung und darauf, dass das Leben einen Weg findet. Es gibt ein “Leben im Sterben” und auch danach. Eine große Verwandlung. Von dieser Hoffnung sprechen wir in unserem Glaubensbekenntnis. Und wir denken über sie nach, wenn wir in der “Woche für das Leben” darüber diskutieren, wie kirchliche Einrichtungen zum assistierten Suizid stehen sollen. Es wirkt paradox, dass es in dieser blühenden, summenden Welt auch Leben gibt, das nicht mehr leben will, inmitten von Leben, das leben will. Und ebenso müssen wir uns erst damit abfinden, dass unsere Vorstellung von einem “natürlichen” Tod vielleicht zu romantisch ist, dass Sterben nicht immer menschenfreundlich ist. Von Ostern lerne ich hier, mit diesen Menschen solidarisch zu sein, so wie Gott es mit uns ist, und mich auch den Abgründen auszusetzen.

Diese Osterbotschaft wünsche ich Ihnen im April 2021: Ein Ende der Erstarrung. Heraus aus dem Dunklen und Engen. Endlich wieder ein Schmetterlings-Leben führen. Nicht so wie früher. Vielleicht sogar bunter. Vielleicht auch eines Tages wieder in Venedig. Noch sind wir weit von dieser Frühlings-Romantik entfernt. Aber sie kommt.

 

Der Autor ist seit Dezember 2019 Oberkirchenrat im Kirchenkreis München Regionalbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche für München und Oberbayern. Mehr über Christian Kopp lesen Sie hier.

Hinweis:
Der Beitrag ist zugleich Gastkolumne im April-Newsletter der Evangelischen Akademie Tutzing. Er erscheint am 1. April 2021. Mehr dazu hier.

Bild: Oberkirchenrat Christian Kopp (Foto: MCK/ELKB)