Flucht, Migration, Integration – vom Gast zum Bürger?

Auf der Flucht

Bloß weg hier. Weit, weit weg von hier. Es ist nur noch dieser eine Gedanke, der Menschen antreibt, ihre Heimat zu verlassen. Mittlerweile sind es 60 Millionen Männer, Frauen, Kinder und auch Alte, die sich weltweit auf der Flucht befinden. Sie fliehen vor Krieg und Zerstörung, vor Hunger und Elend, vor Vergewaltigung und Verstümmelung, vor wirtschaftlicher Not oder Umweltkatastrophen und vor Revolutionen und Terrorismus. Wissenschaftlich untersucht sind etwa 80 Fluchtursachen wusste der Politikwissenschaftler Karsten Fischer auf der gestern zu Ende gegangenen Tagung „Auf der Flucht“ zu berichten.

Was die Flüchtlinge auf ihrer Odyssee erleben, kommt einem Abenteuerroman gleich und hat das Zeug dazu, in die Bestsellerlisten aufgenommen zu werden. Da ist zum Beispiel die Afghanin Roja Khamenei. Sie ist verheiratet, hat drei Kinder und ist gelernte Juristin. Die Taliban trachteten ihr nach dem Leben, da sie sich als Rechtsberaterin in ihrem Land unbeliebt gemacht hatte. „Du musst alles zurücklassen. Eltern, Schwiegereltern, den Ehemann, deine gewohnte Umgebung“, sagte Khamenei. Nur das Notdürftigste auf dem Leib, ein kleiner Rucksack mit Überlebenswichtigem und eine Umhängetasche mit Papieren, Zeugnissen und etwas Geld, mehr nicht. So machte sich die Juristin auf den Weg mit ihren drei Töchtern – über Russland, die Ukraine, Rumänien, Ungarn, die Slowakei bis nach Österreich. Und von dort dann in das gelobte Land nach Deutschland. Zwei Jahre war sie unterwegs. Russisch hatte sie in der Zwischenzeit gelernt. Als Lehrerin hatte sie gearbeitet und eine Ausbildung als Zahnarzthelferin konnte sie auch noch absolvieren. Später jobte sie wegen ihrer umfassenden Sprachkenntnisse als Dolmetscherin. „Du kommst durch, wenn Du Dich anstrengst. Und einen Job findest Du auch immer“, sagte Roja Khamenei und lächelte dabei. In Deutschland angekommen sei alles sehr schwierig gewesen wegen der Bürokratie: Geburtsurkunde, Heiratsurkunde, Schulzeugnisse, Impfbescheinigung, Arbeitsplatzzeugnisse, Mietvertrag, Rentenauskunft, ärztliches Führungszeugnis, Personalausweis und Kontoauszüge. Aber schlussendlich sei auch das zu schaffen gewesen.

Was kann Deutschland für Flüchtlinge wie Roja tun? Reicht das bisher Geleistete? Maria Els, Vizepräsidentin der Regierung von Oberbayern, sah das mit gemischten Gefühlen. Sie erwarte für das Gesamtjahr 2015 „eine Zahl von einer Million plus x“ an Flüchtlingen. Wenigstens 50 Prozent der Asylsuchenden bekämen zumindest ein befristetes Bleiberecht. „Wir brauchen deshalb eine Integrationsoffensive in den Bereichen Sprache, Wohnraum, Arbeits- und Ausbildungsplätze, Kindergärten und Schulen.“

In die gleiche Richtung argumentierte auch die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: „Zur Debatte gehört auch, dass wir legale Einwanderungsmöglichkeiten schaffen.“ Ihrer Meinung nach sei der einzig richtige Ansatz in Europa, „ein einheitliches funktionierendes System mit einer gerechten Verteilung der Flüchtlinge auf die Mitgliedstaaten“ zu schaffen.

Der Journalist Heribert Prantl ging noch einen Schritt weiter und bezeichnete die EU in der Flüchtlingsfrage als „Egoistenkonglomerat verschiedener Nationen“. Die jeweiligen Länder würden „die Zufluchtsuchenden illegalisieren“. Wenn aber jemand sein Leben retten wolle, sei das in keinster Weise illegal, betonte er. Der SZ-Ressortleiter warnte die Verantwortlichen in Tutzing: „Wenn die Politik versagt, wird die Flüchtlingspolitik von den Schlepperbanden gemacht.“ Aber viele Flüchtlinge kosten auch viel Geld. Sollte man vielleicht Flüchtlingskontingente einführen, etwa um Kosten zu sparen? Auch dieses in die Runde gestreute Argument der zu erwartenden Integrationskosten in Milliardenhöhe ließ der Journalist nicht gelten und verwies auf die Steuerflüchtlinge in Deutschland: „Sie haben 100 Milliarden beiseite geschafft.“ Was hätte man mit diesem Geld nicht alles für die Flüchtlinge tun können? Europa müsse jetzt endlich entschlossen handeln, forderte Prantl. Europa, das seien 550 Millionen Menschen, „Europa erstickt nicht an zwei Millionen Flüchtlingen.“ Aber es müsse sich jetzt zeigen, ob Europa zu seinen Werten stehe: Glaubens- und Gewissensfreiheit, Schutz der Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, Frieden, Toleranz und Selbstverwirklichung. „Wenn diese Werte Europa nichts mehr wert sind, dann ist Europa nichts mehr wert“, schlussfolgerte Heribert Prantl.

Einen schweren Stand in der Flüchtlingsthematik hat auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Es sei zu langsam und zu schwerfällig in der Bearbeitung der Asylanträge, so die oftmals geäußerte Kritik. Ursula Gräfin Praschma, Abteilungspräsidentin des BAMF, konnte jedoch mit einigen guten Zahlen aufwarten. Danach würden in Deutschland nur 6,6 Prozent aller Asylentscheidungen des BAMF von Verwaltungsgerichten korrigiert, „in anderen Ländern liegt die Quote bei 25 Prozent“, sagte Praschma. Allerdings, so räumte sie ein, sei die Zahl der Anträge in den letzten zehn Jahren dramatisch gestiegen: von 33.000 auf nunmehr 328.000 Asylanträge, die sich allerdings „im Stadium der Bearbeitung befinden.“

Anhand dieser Zahlen sähe man, so Dr. Jürgen Micksch, Vorsitzender des Interkulturellen Rates in Deutschland und Ehrenvorsitzender von PRO ASYL, dass die Flüchtlingsthematik eine Jahrhundertaufgabe für die reichen Länder sei. „Das 21. Jahrhundert hat so viele Flüchtlinge wie noch nie in der Menschheitsgeschichte hervorgebracht“, erklärte Micksch. Die Flüchtlinge seien Botschafter der weltweiten Ungerechtigkeiten bekundete der Theologe und wies zugleich darauf hin, dass Deutschland sich nicht abzuschotten brauche. Was vielleicht helfen könne, um sich mit den Menschen aus fernen Herkunftsländern besser zu verstehen, sei ein „Wandel durch Kontakte.“

Die Grünenpolitikerin Claudia Stamm nahm diesen Gedanken auf und lobte die enorme Hilfsbereitschaft der freiwilligen und ehrenamtlichen Helfer, aber auch die Tätigkeiten der Ämter und Behörden, die bis an die Belastungsgrenze arbeiten würden. Das bliebe in der Welt nicht ohne Nachhall, sagte die Politikerin und verwies auf Israel, „wo gerade ein ganz neues Bild von Deutschland und der enormen Hilfsbereitschaft der Deutschen entsteht.“ Daraus folgerte sie: „Wir brauchen eine ‚Eine-Welt-Politik‘.“ Kritik äußerte Stamm jedoch an der europäischen Flüchtlingspolitik: „Auf dem Balkan werden Afghanen nach Deutschland durchgelassen, weil sie keine Wirtschaftsflüchtlinge sind. In Deutschland jedoch werden Afghanen in ihr Heimatland zurückgeschickt, weil es dort politisch stabile und sichere Gebiete gibt. Das verstehe, wer will“, meinte die Politikerin.

Den Schlussakzent zu dieser Tagung setzte der Kabarettist Christian Springer. In den zurückliegenden Jahren war er viel in den Ländern Jordanien, Libanon und Türkei unterwegs. Dort hat er die Flüchtlingslager besucht und das unglaubliche Elend der Menschen dort vor Ort miterlebt. „Ich wollte etwas tun. Ich wollte einfach nur helfen“, beschrieb er sein Engagement. 2012 hat er den Verein Orienthelfer e.V. gegründet, dessen Ziel es ist, „dort, wo Not herrscht, schnell und unbürokratisch zu helfen.“ Auf diese Weise konnten bislang viele Arztrechnungen für arme Syrer bezahlt, Schulprojekte unterstützt, Feldküchen gebaut und auch Kuscheltiere für die Kleinkinder besorgt werden. Die auf dem Abschlusspodium versammelten Flüchtlinge dankten ihm das mit Applaus. Und die eingangs zitierte afghanische Roja Khamenei meinte: „Wenn ich es geschafft habe, mir ein menschenwürdiges Leben aufzubauen, dann könnt ihr das auch schaffen.“

(Axel Schwanebeck)

Ein TV-Bericht von Siegried von Fintel für die BR-Rundschau am 28.11.2015, um 18.45 Uhr sehen Sie hier;

Ein Interview mit Dr. Jürgen Micksch, Vorsitzender des Interkulturellen Rates in Deutschland, im Rundschau-Magazin sehen Sie hier:

Zur Bildergalerie von Oryk Haist gelangen Sie hier.

Bundesjustizministerin a.D. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: “Wir brauchen legale Zuwanderungsmöglichkeiten für Flüchtlinge.”
(Foto: Haist)

“Erwartet werden für 2015 insgesamt 1 Mio. Flüchtlinge”, betonte Maria Els, Regierungsvizepräsidentin v. Oberbayern.
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Ursula Gräfin Praschma (re.), Abteilungspräsidentin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge: “Deutschland muss zusammenrücken. Die Menschen werden bleiben.”
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Prof. Dr. Heribert Prantl, Ressortleiter Innenpolitik der SZ, resümierte: “Einigkeit, Respekt und Freiheit muss unser Slogan gegenüber den Flüchtlingen lauten.”
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“Flüchtlinge sind Botschafter der weltweiten Ungerechtigkeiten”, so Dr. Jürgen Micksch, Vorsitzender des Interkulturellen Rates in Deutschland und Ehrenvorsitzender von PRO ASYL.
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Die Grünen-Politikerin Claudia Stamm stellte fest: “Wir müssen akzeptieren, dass wir ein Einwanderungsland sind.”
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Wo Not ist, will er schnell helfen – der Kabarettist Christian Springer gründete “Orienthelfer e.V.”.
(Foto: Haist)

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